König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Phantasie für eine Schürze gelten. Muss er aber nicht. Es braucht auch keine Phantasie, wer ein Narr vor dem Häufchen Volk werden will, das der König vergessen hat. Mit ein paar Sätzen, die hier von Korridor zu Korridor schnattern, hin zum Steg überm Abgrund, und tanzen, tanzen. Und schon kann der Abend beginnen. Ist der letzte Saft, der letzte Strom, aus den Sätzen schon gewichen, wenn sie sich den Fingerspitzen und der Maschine anvertrauen? Und die Spatzen auf den Dächern, singen sie noch? Auf dass ich, Lina Lorbeer, nachdenken und dem einen Sinn ablauschen kann, was keinen hat! Oder zuviel, viel zu viel. Wenn ich hier aber am liebsten über Professor Icks nachdenke, über Justin und Flora und zuweilen auch über Professor Stein? Worüber ich früher, ehe man mich hier aufnahm, nachgedacht hatte, ist vergessen, so vergessen wie Agnes, die an einem Nachmittag in meinen Garten kam, weil ich fürchtete, wie sie zum Gespött der Klasse zu werden. Was soll werden mit dir, Agnes, wenn deine Zunge schon bei A hängen bleibt? A-A-A. Ich werde, galant mit einer Karaffe Wein in der Hand, Frau Professor Stein fragen: Was, Frau Professor Stein, hat zu tun, wem es die Sprache verschlagen hat? Frau Professor Stein sieht kurz von den Büchern auf ihrem Schreibtisch auf, wo Babel noch immer zur Seite geschoben ist, deutet aufs Wort eines Dichters an ihrer Bürowand und sagt: »Wahrlich, dem wird sie noch einmal verschlagen.« Und dann nimmt Frau Professor Stein die Brille aus dem Etui, setzt sie auf die Nase und beginnt ihren Vortrag, beginnt zu sprechen, indem sie noch einmal mit den Fingern die Buchrücken auf dem Pult hinauf und hinab fährt: »Und wissen Sie auch, verehrte Hörerinnen und Hörer, warum und weshalb das so ist? Warum und weshalb es wieder und wieder dem die Sprache verschlagen wird, dem sie schon verschlagen ist? Wohl deshalb, weil nichts und gar nichts mehr stockt und innehält in der Welt, egal, was geschieht. Da herrscht einer den andern an, da verrät einer den andern, beraubt ihn, nimmt ihm sein Innerstes, nimmt ihm den unscheinbarsten Satz, mit Erwachsenen- nicht mit Kinderschrift in die Kopie eines Bildes geschrieben und an die Zimmerwand geheftet, und geht damit im Hörsaal hausieren. Und bekommt noch Beifall dafür und irgendwann, da bin ich sicher, ein Büro, zuerst im Keller, dann mindestens im zweiten Stock. Gut Ding braucht Weile, daran hat sich über die Jahrhunderte nichts geändert. Da ruft ein Professor oder eine Professorin, ist doch egal, eine ins Institut Aufgenommene bei ihrem Namen und zu sich ins Büro und drückt sie in die weichen, weichen Polstermöbel, und verheißt ihr ein Stern in zukünftiger Nacht zu werden, allerdings unter ein paar Bedingungen, über die wir uns, das versteht sich von selbst, jetzt nicht näher auslassen wollen. Und die Autos und Straßenbahnen da draußen fahren weiter, und Wolken ziehen vorüber, und der Gärtner im Hof recht das Laub zu einem Haufen. Tage und Nächte kommen und gehen und von Korridor zu Korridor schnattert’s, und Flora Tauber versteht mich aufs Wort und wiederholt ganz exakt, was ich sage oder zu sagen vergesse. Nicht wahr, Flora Tauber?« Flora springt auf und verneigt sich: »O ja, ja, sehr verehrte Frau Professor Stein! Ich wollte meine Prüfungsarbeit diesem Thema widmen, ich wollte immer schon nichts anderes, als verstehen, weshalb das Volk störrisch ist und in seiner Umnachtung verharrt, anstatt sich zu öffnen für unsere schönen Worte hier drinnen, unser Verstehen. Nur den Wein will das Volk trinken und weiter schlafen. Ich möchte mich in Zukunft gern hinaus wagen, auf die Rampe, und auf deren oberster Stufe einen Vortrag über die zarte, feine Sprache halten. Schützt sie uns nicht alle vor der wirklichen, groben Gewalt? Wer könnte, der so zart spräche, einem andern weh tun? Kann die Hand gegen einen andern erheben und das Angesicht eines andern verletzen, wer hier, in der großen, schönen Bibliothek, im Hörsaal und vor Ihren wunderbaren Reden eine Zukunft vor sich sieht, die dem einen Sessel unters Gesäß schiebt, der sich mit wachen Ohren darüber aufklären lässt, wie man den Verstummten mit den eigenen Worten aus- und weiterhilft? Sie brauchen uns doch. Wahrlich, wem die Sprache verschlagen ist, wer nichts als A-A-A sagen kann, wenn er angeherrscht wird, dem wird sie noch einmal verschlagen, und aus diesem Grunde lernen wir hier über den hinweg zu sprechen, dem alles stockt. Wenn er doch selber nichts mehr
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