König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Welt, und wer bereit ist, alles zu geben, dem werden ein paar neue Triebe sprießen. Alles, verstehen Sie. Alles . Ist nicht die Arbeit – und Ihre Arbeit wird nie Arbeit, sondern wahre Berufung und Sendung sein – das schönste Geschenk? (Professor Stein stockt und räuspert sich.) Neben unsern lieben Vätern und Müttern und, wer weiß, auch Kindern natürlich. Vielleicht werden einige von Ihnen auch Pech haben, ja, das kann sein und gehört dazu, aber wenn es so weit ist, denken Sie daran: Wer bereit ist, sich nicht in Traum- und Wahnbilder zu verrennen, der kommt immer wieder an seinem Schreibtisch oder am Podium an und darf die Bücher aufschlagen und sie auslegen. Jetzt ist das Stocken überwunden. Darum lassen Sie uns trinken und zum gemütlichen Teil kommen und uns ein wenig über Ihre und meine Kollegen sprechen. Ich erhebe das Glas auf Ihr Wohl, liebe Kolleginnen!« Wie im Hörsaal klopfen die Fingerknöchel aufs Holz, und die Tulpenblätter lösen sich und landen am Platztellerrand. Was holt da jemand aus einem schwarzen Koffer, der unterm Tisch neben meinem Ball liegt? Eine Geige? Wenn jetzt hier eine Gaudeamus Igitur spielt, halte ich mir die Ohren zu und laufe davon, und sei es ins Institut für Gedankenkunde und Verstehen . Dort werden sie sitzen und sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen, weil’s hier wie im wirklichen Leben zugeht. Nur Flora steht in der Ecke, neben der Kaffeemaschine und streicht sich mit den Fingern über die Handgelenke, als wären sie angeschwollen und schmerzten. Mit großen, verlorenen Augen schaut sie zum Fenster hinaus, in den kleineren Hof, wo kein einziger Steinkopf aufgebahrt ist. Sind ihre Haare dünner geworden? Oder hat sie eine neue Brille? Wie mein Herz rast. Wenn ich aus früheren Tagen noch einen Funken Gewissen mit mir trage, muss ich ihr erzählen, wohin der Ball gerollt ist und was ich mit eigenen Augen, wenn auch als Zaungast, gesehen habe. (Jeder war Zaungast, wahrscheinlich sogar Professor Stein, und einer von diesen gastlichen Füßen spielt jetzt mit dem Ball, den ich ganz aus meiner Hand gegeben habe. Widrig ist mir das, sehr, sehr widrig.) Flora, muss ich sagen, es stimmt dich wahrscheinlich nicht froher, aber Professor Stein verhält sich auch zu andern wie eine gute Mutter. Glaub mir, es war wie in einem Bild: Ich hab die zu Ende Ausgebildeten ringsum ihr Haupt wie einzelne, schwer geknechtete Gedanken sitzen sehen. Vielleicht auch mehr wie zarte, aber in so jungen Jahren schon gänzlich erstarrte Glieder eines schon lange sehr harten Körpers. Oder auch nur wie das Publikum, von dem Professor Stein einmal gemeint hat, dass es sich immer insgeheim wünsche, an ihrer Stelle zu sein, am Podium? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall aber schien das Klima sehr, sehr vertraulich, du weißt, genau wie in den feierlichen Zusammenkünften in den besten Familien. Flora, mach die Augen auf. Verstehst du, was das bedeutet? Verrenn dich nicht in Traum- und Wahnszenen, Professor Stein hat selber gesagt, dass das die Heimat am Schreibtisch durcheinander bringt und die Zukunft sehr gefährdet. Auch wenn du täglich hundert Bücher aus der Bibliothek ins Büro trägst und jeden von Professor Steins Wünsche von ihren Lippen abliest: Andere haben das auch schon gelernt und können sogar noch Geige spielen. Sie wollen auch in Professor Steins Dienste treten, verstehst du? – Und was, wenn’s nach meinen Worten mit Floras Beherrschung vorbei ist und sie weinen muss? Habe ich, Lina, Angst vor ihren Tränen? Oder davor, dass sie bei der nächstbesten Gelegenheit das Taschentuch im Hörsaal auf Professor Steins Pult fallen lassen wird, als kaum auffälligen Beweis dafür, dass ich die Professorin verraten, ja, verraten habe? Ich muss es ihr sagen. Jetzt. Flora –
In der Allee, die zu dem Haus mit meinem Zimmer führt, liegen die Kastanien schon auf dem Trottoir. Wehe mir, wenn ich jetzt noch einmal etwas Rundes, Rollendes in die Hand nehme. Die Straße vor meinem Fenster wird mir ja nicht einmal in der Nacht glauben, wohin es mich verschlagen hat, am helllichten Tag und im wirklichen Leben. Und was, wenn auch die Nachbarin nicht zuhause ist, um mich in dem matten, von Kleidern verhangenen Spiegel keinen Hauch von Lina Lorbeer wieder erkennen zu lassen. »So poetisch war noch niemals ein Gesichtchen, dass es nicht ein paar Grimassen vor dem Spiegel schnitt.« – Reisender, du schon wieder? Um mir was vor zu zitieren? Mir ist heute nicht so sehr nach Unterhaltung. –
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