König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
wollte ich zart, noch zarter werden lassen und mich ans Vergessen erinnern. Stattdessen erschrecke ich so gut wie überall hier, nicht einmal die Bibliothek ist ein sicherer Ort, und alles erinnert mich, aber ich weiß nicht, an was. Das Gras im Hof ist gestutzt, die Bänke so gut wie leer, und Professor Icks wird mich nun auch noch »im Auge behalten«. Ob das gute Aussichten für mich sind? Ob ein freier Geist werden kann, wer sich in den Augen anderer verfängt? Wäre Justin nicht so schnell an mir vorbei gelaufen, ich hätte meinen Mut zusammen genommen und ihn gefragt, ob er auch zu den Glücklichen gehöre, deren Namen man sich merken müsse, unbedingt. Atmen Sie, atmen Sie, Lina Lorbeer! Jaja, Frau Professor Stein, nur leider kappt hier immer etwas meinen innern Strom, und Dämme kommen in mich, und Wolken verdüstern mir den ohnehin schon grauen Himmel. Und da oben, ist da oben etwa was? Nichts ist da, nur so ein Fahrrad mit zwei Rädern, einem ganz kleinen, einem übergroßen, und alle vernünftigen Maße sprengt es, dieses wie aus dem Zirkus, wie aus dem Zirkuszelt in den Himmel aufgestiegene Rad. Wie kommt’s, Frau Professor Stein, dass es ohne Fahrer und Lenker dahinbraust und noch immer nicht abstürzt? Das wäre ein Landen, hier, mitten im Hof. Die Münder aus den Steinköpfen würden zu sprechen beginnen, lachen würden sie, laut und leise lachen, denn eben ist eine große Menschenfrage vom dunklen Himmel gefallen. Wenn das kein Fest ist! Vom Lachen der Steinköpfe erwachte der Portier, der seit hundert Jahren in der Halle schläft, und er kratzte sich am Kopf, und sagte, richtig, ich wollte mich doch an etwas erinnern. Ach ja! An die hier Eintretenden, hier Aufgenommenen wollte ich mich erinnern. Stören wollte ich sie, durcheinander bringen, wenn sie den Fuß über die Schwelle setzen, ein Bein wollte ich ihnen stellen, denn wer hier nicht aufgehalten und ganz und gar unterbrochen werden will, soll lieber warten vor der Tür, bis ich sie für immer schließe. Danke, Herr Portier! Nun weiß ich alles, wirklich alles, und kann nach Hause gehen und das Schloss zu meinem Gemach aufsperren, wo wieder nichts andres als mein Sofa, mein Tisch, meine Bank vorm Fenster und ein paar Kartons mit alten Briefen und Tagebüchern zu finden sind. Aber die bleiben zu! Ach ja, und meine Blätter. Meine Blätter für Jakob.
Lieber Jakob, ich weiß nicht mehr, wer ich bin, und ja, Du wirst antworten, dass das nun wirklich keine Neuigkeit und es zudem nicht wichtig sei zu wissen , wer man ist. Da magst Du die Wahrheit sagen, Jakob, aber glaub mir, mit der ist’s aus und vorbei, wenn Dir immer so schwindlig wird, sobald Du da hin gehst, wo Du nun einmal gerade hingehen musst. Muss ich denn? Muss ich ins Institut für Gedankenkunde und Verstehen gehen? Ja und nein, Jakob, ja und nein. Wir wollen schweigen, hat Professor Icks gesagt, wir wollen schweigen. Aber ich weiß nicht recht, worüber, und womöglich will ich es nicht einmal ahnen. Ich bin jemand anders, wenn ich vor den Regalen in Professor Icks Büro stehe, aber ich weiß nicht, wer. (Und die Katze beißt sich in den Schwanz, wenn der Forscher sie nicht aus dem Fenster wirft und der Erbsenfresser sie auffängt. Jaja.) Etwas Übertragenes? Nichts Eigenes mehr? Aber das kann doch nicht sein, wenn alles in mir stockt und ich ganz stumm werde und zugleich alles nur so dahin fließen will. Auf der einen Seite friert mich und auf der andern wird mir so warm, so wohlig, dass ich am liebsten einfach nur sinken mag, irgendwohin, und dort, am Grund, Professor Icks begegnen. Und wenn ich etwas so Zartes für Sie empfinde, dass ich mich selber nicht wieder erkenne? Bin ich dann eine Figur aus einem Buch oder noch ich? Müssen Sie mir dann Herz und Lunge heraus nehmen und erforschen? Aber das kann nicht Ihr Wunsch sein, Herr Professor Icks, denn niemals sonst hätten Sie mich an den Stadtrand geschickt, um im matten Schein der Hochhauslichter Schlittschuh zu laufen und das Eis vorsichtig sich spalten zu hören. (Und ich hab’s ja gehört, und hör’s immer wieder.) Und wären auch nicht ans Fenster getreten, um jemandem zu sagen, er solle sich zu fürchten aufhören, jemandem, der gar nicht da ist. Und wenn ich in Professor Icks’ Augen gar nicht da bin, sondern nur er selber, und er zu mir nur sagt, was er zu sich selber, wenn er allein ist, nicht sagt? Vielleicht ist er nie allein, vielleicht vernachlässigt er sein Zimmer, und sehnt sich, ohne es zu merken, nach
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