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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
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in der besonderen Welt des Instituts für Gedankenkunde und Verstehen versetzt mich das Langweiligste in großes Erstaunen, zumal wenn Frau Professor Stein ganz in der Nähe des Beckens, über dem, wie es überall der Brauch ist, ein kleiner Spiegel hängt, eine Kreide in der Hand hält, ja, eine Kreide, was sonst. Irgendwann wird man Kreide und grüne Tafeln unter Denkmalschutz stellen, aber bevor wir uns im Museum an die letzte Zeit erinnern, in der Verstehen und Gedanken erkunden gelehrt wurde, und zwar zuweilen mit Kreide und an verschiedenen Tafeln, dürfen wir noch hier sitzen, an den Fingernägeln kauen und darauf hoffen, dass eine große Menschenfrage vom Himmel fällt oder aus Professor Steins Mund ins Zimmer huscht. Und wie, höre ich recht? Eine so große Frage? Und Professor Stein stellt sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ohne einen Anflug von Zögern, entschlossen, als ob sie an ihrem Schreibtisch säße und vor sich hin schlummerte, schreibt sie
     
    WAS IST DER MENSCH?
    an die Tafel. Flora fährt mit ihren Fingern über die dunklen Schatten unter ihren Augen, Justin hält sein Namensschild direkt vors Gesicht, und ich mache nichts, was auch nur irgendjemanden überraschen könnte: Ich sehe aus dem Fenster. Wenn auch, wie ich befürchte, nicht mehr lange, denn irgendetwas werde ich, wie die andern auch, mit dieser Frage tun müssen. Und siehe da, Frau Professor Stein eröffnet uns tatsächlich drei Möglichkeiten, mit dieser »großen, der größten aller Fragen« umzugehen:
     
Geben Sie Antwort.
Denken Sie nach, was Ihnen bekannte Denker und Dichter dazu zu sagen wussten.
Gleichviel. Machen Sie, was Sie wollen.
    Weiß mein Notizbuch, das ich immer bei mir trage, klugen Rat und eine Idee zu schenken? Wohin ich auch blättere, sehe ich in erster Linie Striche, skizzenhafte Figuren, Tafeln, Rotweinkaraffen, einen Kostümschrank, Balkone, von denen große Forscher Katzen hinunter werfen, einen Mundschenk, unter den ich mehrmals ein Kreuz gezeichnet habe, zum Zeichen dafür, dass das ich sein könnte. Hier und da ein Baum, ein paar Vögel. »Lüge, bist du noch da? Und Feigheit du auch?« steht in ganz kleinen Buchstaben, jeweils links unten auf der Seite, gewiss abgeschrieben aus dem Gedicht, das meine Schwester und ich vor uns her murmelten, ehe ich es, auf hauchdünnen Ton gebrannt, in meinem Reisekoffer wieder fand. Kein Zweifel, mein Notizbuch scheint noch keine rechten Begriffe von den großen Fragen zu haben. Werde ich sie mit in mein Zimmer nehmen müssen, für mein ganzes Leben und meine nicht mehr ganze, meine schon zertrennte Liebe, die im hellen Fleck an der Wand herumspukt, wenn ich mich auf dem Sofa einrolle? Frau Professor Stein sieht mich an. Mit den Worten, dass dies hier durchaus keine Prüfung sei und wir nur hemmungslos und einfach so unsern Gedanken freien Lauf lassen sollten, setzt sie sich auf den Stuhl. Braucht sie von uns ein paar Anregungen für ihre Vorträge auf der Rampe, fürs Volk, das heißt, für ihre Kollegen? Justin prustet in sich hinein, ganz versteckt hinter seinem Namensschild. Ich hüte mich davor, mich auch nur ein klein wenig näher zu ihm zu drehen. Die kleinste Bewegung würde mich anstecken, und was würde wohl geschehen, wenn Justin und ich ausgerechnet bei der allergrößten Frage, die ein Mensch stellen kann, rücklings von unsern Sesseln zu Boden fielen, zu Boden, wo nicht ein einziges kleines Sandkorn uns darauf hinweist, dass wir, komme was wolle, gleichviel, hier drinnen auf Sand bauen? Was ist der Mensch, schreibe ich in mein Notizbuch, und blicke nun doch, aus Not, zu Justin, und er beißt, hinterm Namensschild, von einer langen dünnen Wurst ein Stück ab. Ich lege in meinem Notizbuch die Wurst auf den Teller des Königs, nur ein ganz kleines Stück, und laufe zum Hofnarren und gebe ihm meine Hand: Narr, bitte tu mit meiner Hand, was immer du willst, erfülle die dritte Aufgabe! Die Augen des Narren sind undurchdringlich, sie schielen, und sie schielen zu Frau Professor Stein. Er nimmt meine Hand, zieht mich zum Waschbecken und hält sie unter die Tropfen, so lange, bis sich auf meiner Fingerspitze etwas angesammelt hat, das ich, ein poetisches Gesichtchen, für ein Meer halten kann. Und jetzt? Der Narr zuckt mit den Achseln und verschwindet. Ich bleibe ohne ihn im Hörsaal zurück, und Wasser tropft von meinem Finger auf die große Frage nach dem Menschen in mein Notizbuch, und hie und da färbt es sich ganz rot, als ob’s mit Blut gemischt

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