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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
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ich verrate Ihnen, dass jeder, der hier beschäftigt ist, immer ein gewisses Ansehen genießen wird, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er hier beschäftigt ist. Mit dem Unglück der Welt, verstehen Sie? Ja, wovon erzählen denn die Denker und Dichter sonst als vom Unglück in der Welt? Und Sie wollen da so unberührt und kalt bleiben. Aber das wird kein gutes Ende nehmen. Nein und noch einmal nein.« Frau Professor Stein zieht die Mundwinkel herab, legt ihre Hand unters Kinn und schüttelt den Kopf. Ich muss lachen, weiß der Teufel, warum ich jetzt lachen muss. »Jetzt lachen Sie mich auch noch aus!« Eine Träne aus Professor Steins Auge tropft an Babel vorbei auf den Boden.
    Wenn ich mich nun doch dazu entschlösse, in Frau Professor Steins Dienste zu treten? Das Lachen würde mir dann vermutlich vergehen, aber wozu muss ich auch lachen. Hier auf der Straße lacht auch niemand. Ich will horchen, tagelang will ich nur lauschen, ob von irgendwoher ein kleines Gelächter zu vernehmen ist und ob es so klingt wie mein Lachen oder das Lachen von Frau Professor Stein. Mir ist das so unheimlich, ja, bange wird mir vor mir selber zumute. Ich weiß nicht, wie lange jemand üben muss, um so weinen zu können, dass ein anderer gar nicht anders kann als lachen, aber so lachen, als ob’s ein verhindertes, ein ganz unmögliches Weinen wäre. Geht jetzt wieder meine Phantasie mit mir durch? Denn, nicht wahr, Lachen und Weinen, das übt doch nun wirklich niemand, das sind doch Gaben, mit denen jede und jeder schon zur Welt kommt. Solcher Selbstverständlichkeit kann nicht einmal das Institut für Gedankenkunde und Verstehen einen Strick drehen! Aber was ist das für eine Gewalt, die Frau Professor Stein zwingt, mich in ihrem Büro auf ihre Tränen aufmerksam zu machen? Was habe ich denn getan, dass sie weinen muss, so weinen muss, als ob sie schon tagelang weinen geübt hätte, wie ein Schauspieler, dem das Theater keinen Hauch von Ferne zu seiner Rolle gönnt? Meine Vorliebe für stundenlanges Sitzen und Nachdenken, ja und meinetwegen auch Träumen, ja und meinetwegen auch meine Unentschiedenheit bezüglich der Aufnahme in ihre Dienste, sollen schuld daran sein, dass Frau Professor Stein zuhause, in ihrem stillen Kämmerlein, weinen üben muss, für den Fall, dass sie in einer Szene Tränen braucht? – Lina, Schluss. Hör auf, hörst du? – Du bist’s, Reisender? – Nein, nein, ich bin’s nicht, ich bin’s noch lange nicht.
    Das Licht vom Bild an der Wand strahlt in mein Zimmer. Schmal muss die Gasse sein, auf die die Frau am Fenster blickt, und nah die Mauer des gegenüber liegenden Hauses. Ob ein Echo zu hören wäre, wenn sie etwas riefe? Nur A-A-A, weiter nichts. A-A-A. A-A-A. Wie Agnes damals, Agnes, deren Füße in den Boden wahrscheinlich gar nichts schrieben, sondern nur Kreise zeichneten, kleine und große, und in einen davon stieg sie, um aus dem Klassenzimmer zu entschwinden, und von dort ging’s beinah ohne Unterbrechung über in den nächsten, und schon war’s ein Sog, schon nahm sie etwas mit, schon zog sie etwas fort, und jetzt, wo immer sie ist, ist sie beinah überall zugleich und dabei nirgends ganz, und stellt sich hinter mich und erinnert mich, indem sie mit den Händen über den Rock streicht, dass ich etwas vergessen wollte. Was nur, was wollte ich vergessen? Wollte ich vergessen, dass ich immerzu Dinge zu sehen und Dinge zu hören bekomme, die nicht für meine Augen und Ohren bestimmt sein können? Ehe ich hier eingeschrieben war, dachte ich, die eigenen Tränen wolle man nur mit Menschen teilen, für die man Zuneigung empfindet, und das eigene Zimmer auch. Ja, so allgemein verständliche Gedanken dachte ich, so leicht zugängliche. Aber hier, am Institut für Gedankenkunde und Verstehen, liebt jeder jeden, und Tränen kommen zu mir, obwohl ich doch noch gar nichts bin und der hier gepflogenen Liebe unwürdig. Versteht das einer? Agnes wahrscheinlich, Agnes würde es verstehen, aber Agnes’ Verstehen muss ich mir vorstellen, und zuweilen wünschte ich, jemand, der versteht, wäre ganz wirklich hier bei mir, mit beiden Beinen fest auf dem Boden, hier in meinem Zimmer. Ich stehe auf und gehe zum Fenster, die Frau am Fenster mir nach. Nichts als Einsamkeit um sie herum, ein Art Armut. Und drüben der große Spiegel ist verhangen, und die Nachbarin noch nicht einmal als Silhouette sichtbar. Aber das macht nichts, denn hinter mir steht die Frau am Fenster und bittet alles, was mir in meinem Zimmer

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