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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
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verstanden. Wie mich solche Einsichten beinah befreien! Nämlich dazu, Dir zu schreiben, Jakob. Allerdings fange ich dann an, mich nach Dir zu sehnen, und Sehnsucht sollte dann vielleicht auch Sühnsucht oder Sinnsacht heißen, und wer weiß, was dann von ihr übrig bliebe. Immer holt mich etwas ein, und immer rolle ich mich dann am Sofa zusammen oder schaue am Rücken liegend zur Decke, weil sich da oben so gerne ein kleiner Lichtschein von der Straße hin und her bewegt und mich mit seiner Gaukelei so betört. Betört? Ja, betört. Ich will ja unbedingt betört sein. Lina.

XV.
    Alles hier ist beinah so, wie Professor Icks es gesehen hat, als er in seinem Büro nicht mehr ganz mit mir, die ich an der Regalwand lehnte, sprach, sondern mit einem andern, der weit weg, sehr weit weg und ganz ungreifbar geworden ist. Eine hauchdünne Schneedecke liegt auf dem Eis, es ist niemand mehr da, und aus den Fenstern der Hochhäuser kommt mildes Licht und zeichnet kleine, helle Flecken auf den Boden. Ob’s schon sehr spät ist, zu spät, um hier Eis zu laufen? »Wir wollen schweigen, nicht wahr, Lina Lorbeer, Sie werden doch niemandem etwas erzählen, wir wollen schweigen.« – Worüber denn, Herr Professor Icks? Ich setze vorsichtig meine Füße aufs Eis, ganz von Lust erfüllt, mich hier auf der großen, weiten Fläche, der größten, auf der ich jemals Schlittschuh lief, zu verlieren. Verlieren will ich mich, Herr Professor Icks, eingehen in die helle Nacht und aus ihr, mit dem Ton sich spaltender Eisschichten, hervorgehen. Sind Sie einverstanden? Hören Sie, wie lange er nachklingt? Wo entspringt er denn? Ja, Sie sehen, ich fuhr hierher, an den Stadtrand, um zu erkunden, wie in der Tiefe entzwei reißendes Eis klingt, wenn ich als einzige spätabends eine Reihe von Schleifen in die hauchdünne Schneedecke zeichne, auf der Suche nach dem Satz oder dem Wörtchen, das mir fast gar nichts sagen will. Wie lange ich wohl hier bleiben muss? Und werde ich mich, es dann irgendwo aufgelesen, als würdig erwiesen haben, am Institut für Gedankenkunde und Verstehen in die Lehre zu gehen, in Ihre, Professor Icks’ Gedankenstunden? Ich laufe und laufe, drehe Pirouetten und wage hier und da einen kleinen Sprung, wie in Kindertagen. Mit weit von mir gestreckten Armen drehe ich mich und fahre im Kreis rückwärts, immer einen Fuß vor den andern ziehend. Schon fliege ich fast, schon hebe ich ab, und sage zu mir, wie im Traum, Sag unbedingt Ja . Ja zu einem widrigen Ansinnen, zu einem nicht einmal am Horizont sich andeutenden Satz oder Wort? Vergeben Sie, über alles verehrter Herr Professor Icks, dass ich sogar im Traum so weise fragen und sprechen muss wie ein Mundschenk aus der Kostümkiste vom Dachboden, den zuweilen die Liebe überkommt. Und wohin zieht mich die Liebe? Doch nicht etwa in Ihr Gemach? Und dort erzählen Sie mir, was Sie noch nie jemandem erzählten, aber mich nimmt’s mit und versetzt es an den Stadtrand, auf dass ich Ihren Worten folge und mich, obschon es wummert und kracht unter mir, weiter und weiter hinaus bewege. Und da sitze ich dann, da liege ich dann, und es ist kalt und warm zugleich, können Sie das verstehen? Das wäre schön, wenn Sie, in Ihrem Zimmer, ein wenig verstehen wollten. So plötzlich zuhause zu sein! Und schon legen Sie Brot und stellen Sie Wein auf den Tisch, und tief unter uns summt irgendwas und hört die ganze Nacht nicht auf. Wie Sternengesang aus einem Buch, wo die Sterne schon längst nicht mehr singen dürfen. Sterne verboten. Meere verboten. Wälder und Wiesen auch. Wer müsste, bei so viel Verboten, denn nicht auf dem Kopf gehen und die Sterne als Abgrund unter sich haben? Wir jetzt, wir müssen’s. Komme, was wolle, wir müssen’s. Und horch, wie es da schon wieder nicht aufhören will, wie es nie aufhören soll und wie es eine Linie, eine Furche wie von Schlittschuhkufen in die glatte, glatte Eisfläche schreibt. Eine Achterbahn?
    Mich friert und schwindelt schon, und nirgendwo im hauchdünnen Schnee steht der Satz, das Wörtchen, geschrieben, von dem Professor Icks gesprochen hat. Vergeblich meine Reise an den Stadtrand, mein Ausflug in das Schattenspiel der Hochhauslichter, meine ewige Gefolgschaft? Was macht’s! Einmal werde ich doch Herrn Professor Icks davon erzählen, dass alles beinah so war, wie er es in seinem Büro kommen gesehen hat. Lina Lorbeer, erinnern Sie sich! – Woran Reisender? – Dass es Sie an einen Ort des Vergessens, des steten Vergessens, verschlagen hat

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