König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
stillen, ganz leeren Räumen. Sogar seinen Stuhl stellte er gern in die Aula, und ließe ihn da stehen, einen ganzen langen Tag und noch einen und noch einen. Und um den Stuhl herum liegt ein dickes, dickes Seil, und wehe dem, der darüber steigt und in den ganz magischen, von überaus wirren Gedanken erfüllten Kreis eintritt, den der Stuhl ausstrahlt, dieser gewöhnliche, fremde Stuhl hier in der Halle, wo der Portier freundlicherweise aufgewacht ist. Aber doch nicht, um mich davor zu bewahren, über das Seil zu steigen. Jakob, hab Nachsicht mit mir. Lina.
XIII.
Justin? Noch nie habe ich Justin so sitzen sehen, auf den unteren Stufen der Treppe vor der Bibliothek. Wie lange sein Haar geworden ist, es könnte, wenn er nachhülfe, seine Augen verschleiern, sein Gesicht zur Gänze bedecken, und ich könnte, wenn ich wollte, seine Hand nehmen und sagen, lass uns gehen, Justin. Wohin, Lina? »Weg von hier, das ist das Ziel«. – Sprich nicht schon wieder wie aus dem Buch, Lina, noch dazu aus diesem nicht. Ich presse die Lippen aufeinander, weil ich sonst so laut auflachen müsste, dass den Lesenden in der Bibliothek das Buch vom Tisch oder aus der Hand fallen würde. Justin! Ich berühre seine Schulter, ich schüttle ihn, zuerst sanft, dann heftiger. Er rührt sich nicht, blickt nicht auf, bleibt sitzen, als ob ich nicht eben jetzt gegenwärtig wäre und ihn packte, an der Schulter packte, damit er aufhört, mich mit seiner Leblosigkeit zu erschrecken, der Erinnerung daran, dass unsere Haare noch wachsen und die Zeit vergeht. Soll ich hier neben ihm sitzen bleiben, bis er wieder aufwacht und zu sich kommt? Und gezogen in seinen sonderbaren Schlaf, werde ich nicht vom Fleck kommen und, von derart angestrengter Bewegung am Stand vollkommen ermüdet, irgendwann neben ihm auf der Stufe hinsinken und mir die Hände vors Gesicht halten. In solcher Haltung soll meine Zukunft bestehen? In solch selbst gemachter Finsternis soll ich warten wollen, dass Leben in meine Gebeine zurückkommt? Justin! – Ich werde hier für Justin einen Zettel liegen lassen, einen Notizzettel, auf den ich nichts anderes als einen Strich zeichne, und, um allen Missverständnissen vorzubeugen, werde ich darunter am Horizont gespanntes Seil schreiben. All jenen gewidmet, die nie von hier fort gehen. Ein Strich geht übers Blatt und sehnt sich nach Girlanden und Lampions, die über Tische im Dunkeln streifen und dies und das beleuchten. Und jemand singt sogar ein Lied, wie von weither, wie aus einem Dorf, wie aus dem abgelegenen Winkel einer großen Stadt, und alle Töne sickern durch meine Haut, und der Reisende schlingt seine Arme um mich, und wir bewegen uns wie in Trance durch die finsterste Gasse der Welt.
»Träumen Sie schon wieder, Lina Lorbeer!« Das ist Frau Professor Steins Stimme. Zittert sie? Mit ihrem Zeigefinger lockt mich Frau Professor Stein zu sich, lockt mich zu sich und steht doch unmittelbar vor mir. Wie soll ich das verstehen, wie soll ich es jemals begreifen? Unfassbar wird es bleiben. Ich lehne mich in ihrem Büro an die geschlossene Tür: »Haben Sie nachgedacht, Lina Lorbeer? Wollen Sie in meine Dienste treten und ein wenig tiefer blicken?« Ich senke die Augen und finde am Boden nicht ein einziges Staubkörnchen. Vom Sand rede ich gar nicht mehr. »Ihre Träumereien missfallen mir sehr, sehr. Ich sehe Ihnen doch die Klugheit an der Nasenspitze an, und Sie wollen solches Ansehen gar nicht erwidern? In der Bibliothek öffnen Sie die Bücher nur, um auf die Blätter zu schauen, und in diesem Schauen die Wirklichkeit um Sie herum zu vergessen. Wie aber, wie soll dann diese Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, dass Sie hier sind, dass es Sie gibt? Was glauben Sie denn, wie froh und dankbar hier einige andere wären, von mir so beachtet zu werden wie Sie. Ich darf Ihnen im Vertrauen sagen, dass die Besten von ihnen sogar Geige spielen für mich, bei den ungezwungenen Zusammenkünften in privater Runde. Noch scheint Ihnen an solcher Förderung nichts zu liegen, aber glauben Sie mir, wenn Sie da draußen über die Rampe gehen und entdecken, dass außerhalb der weit verzweigten Netze unseres Instituts an dem, was Sie denken oder träumen, niemand auch nur einen Funken von Interesse aufbringen wird, dann werden Sie sich daran erinnern, dass ich Sie vor der Wirklichkeit gewarnt und Ihnen alle schönen Angebote unterbreitet habe, die für einen Menschen von Nutzen sind, der weiß, was er will und dass er in der Welt etwas werden will. Und
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