König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
fühlte ich es auch, mir war wohlig warm zumute in diesem Augenblick. Aber fühle und denke ich da falsch? Wie ist man betrogen, wenn man hier ein- und ausgeht und sein Denken und Verstehen verfeinern lassen will. Muss das sein? Gehört’s dazu? Will ich betrogen sein? Aber wozu denn? Vielleicht kommt’s, weil hier alle in fremden Gedanken dahin dämmern und sich bald ganz mit ihnen verwechseln. Aber es muss doch ein kleiner Spalt zwischen mir und einem andern Gedanken bleiben, eine schöne Ferne, hie und da ein Abgrund? Ich dachte immer, diese Ferne wäre wahre Nähe. Stell Dir vor, wir alle leben hier in den Gedanken anderer, wir dämmern so vor uns hin, und irgendwann, allmählich oder plötzlich, das wage ich nicht sicher zu sagen, sind wir mit ihnen verschwommen, ohne uns dafür entschieden zu haben, ohne das gewollt zu haben? Und schon kommt ein Professor oder eine Professorin (glaub mir, das ist wirklich gleichviel) daher und verkündet, wie schön und wichtig solch »geistige« Entgrenzung und Willenlosigkeit sei! Sonderbare Ekstase, merkwürdige Willenlosigkeit. Ich dachte, aus einer Ekstase ginge man verwandelt hervor und behielte ein Bewusstsein von dem, der man früher war. Und Willenlosigkeit, dachte ich, sei die schönste Gabe des Vertrauens. Und obwohl sie einem geschieht, vielleicht sogar geschenkt wird, hat man sie doch gewollt? Wie das die Gesichter verändert! Siehst Du, Jakob, welcher Riss sich zwischen »Ekstase« und »Ekstase« schon wieder auftut, eine Gletscherspalte ist das, und um nicht ganz hineinzukippen, rufe ich in ihre Tiefe eine Frage an Herrn Icks: Ist das wirklich das Wesen der Wörter, dass Sie und ich einander und uns selbst nicht mehr verstehen? Oder eine Ausrede? Und zurück schallt es, mehrmals: Rede, Rede! Gute Nacht, Jakob. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich habe noch so viel Zeit, irgendwas zu verstehen. Lina
XVIII.
Wir sitzen im Hörsaal und warten auf Frau Professor Stein. Auf meinen Wegen durch Gänge und Korridore, an den Büros vorbei, höre ich ihre Sätze stocken, ja, abbrechen, noch bevor sie zu Ende gegangen sind. Im Hörsaal geschieht das nie, nein, immer nur draußen, wenn sie mit jenen spricht, die Bücher kopieren oder Topfpflanzen gießen. Werden ihre Augen dann mitten im Satz groß und müde, sehr, sehr müde, und irrt sie dann fort, zurück in ihr Zimmer, um ihren Kopf in die Arme zu betten, neben den Stapel Blätter, neben Babel? Weint sie dann wirkliche Tränen? Tränen, zu denen wir, während wir im Hörsaal sitzen und warten, einen Abstand wahren, eine weite Ferne zu allem, was fließt, eine Ferne, die wir in hundert Jahren durch stete Übung überwinden lernen müssen? Aber was und wer wird uns denn dazu zwingen? Flora trägt die Namen und Seitenzahlen, die auf den eingelegten Zetteln aus den Büchern hervorschauen, in Listen ein. Da störe ich sie lieber nicht und klopfe selber vorsichtig an Professor Steins Tür. Ich klopfe, nichts rührt sich. Ich klopfe noch einmal, es ist kein Laut zu vernehmen. Niemand da, schreibe ich, zurück gekommen, an die Tafel. Niemand da im Büro von Frau Professor Stein. Alle verlassen den Raum, nur Justin, Flora und ich bleiben zurück. Wie mich das an alte Zeiten erinnert, an die Stunde, in der Justin Flora eingeführt hat: »Flora Tauber dachte, dass wir alle Hunger haben.« Und wie schreckhaft sie dabei wirkte. Als ob sie gar nicht gemerkt hätte, dass wir spielen. Wir haben doch gespielt? Justin? Justin steht am Fenster, die Hände in den Hosentaschen, und wie er da steht, nehme ich eine plötzliche Ähnlichkeit seiner ganzen Erscheinung mit Herrn Professor Icks wahr. Ich gehe zum Waschbecken und schaue in den Spiegel. Und an wen, Lina Lorbeer, an wen erinnerst du dich selber? Aber wie ich da so stehe und mein Gesicht erkunden und erforschen mag, schieben sich andere Bilder davor, drei Gestalten im Hörsaal, eine steht am Fenster, in Gedanken versunken, unansprechbar, abwesend, eine andere sitzt auf dem Sessel in einer der ersten Reihen und schreibt und schreibt, als ob’s nicht Namen und Seitenzahlen wären, sondern ein eigenes Buch, und eine dritte steht vor dem Spiegel und rührt nicht einen Muskel im Gesicht. Das linke Augenlid zuckt, sie streicht mit den Fingern darüber. Und dazwischen, ist irgendwas dazwischen? Laufen Bahnen, Geleise, von hier nach da? Atmen sie nicht alle jetzt dieselbe Luft, dichte, sehr dichte Luft? Wie sonst soll Luft in Hörsälen sein, wenn nicht dicht und voller Leben, voll
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