König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
vorbeikommt und ihr ein Büro verspricht. Ach Jakob, verrennen wir uns hier allesamt, jeder auf seine zwingende Weise? Das darf womöglich alles nicht wahr sein, aber glaub mir, es ereignet sich vor meinen Augen. Zwischen Wahrheit und Lüge, sagt Professor Icks, klafft ein ganzer Hofstaat von Schatten. Blasse Mundschenken und Narren? Und possieren so launisch, dass Wahrheit und Lüge rücklings von den Sesseln an der Tafel fallen. O ja, ich weiß oder fange an zu verstehen. Alles hier gibt mir Nachhilfe. Aber die Rosine lag, aus dem Kuchen gefischt, auf meinem Teller. Lieben Gruß, Lina.
XVII.
Herr Professor Icks hat sich auf das Pult gesetzt und lässt die Beine baumeln. Niemand gibt einen Ton von sich, nicht einmal Justins unterdrücktes Lachen lockt mich, den Kopf zu ihm hinzudrehen. Ich höre es nicht mehr. Mag sein, Justin hat nichts mehr zu lachen, nicht einmal irgendwas Unterdrücktes hat er noch einmal und tiefer zu unterdrücken. Ich fahre mit meinen Fingern auf dem Notizbuch hin und her, in unruhiger Erwartung des heutigen Themas für unser Nachdenken. Wie kommt’s, dass Professor Icks so lange den Anfang hinauszögert? Sonst geht hier alles so schnell, ja, Schlag auf Schlag. Ich stelle mir das Ticken einer Uhr vor, eines alten großen Weckers, und das Gurgeln einer Kaffeemaschine, wie an den Sonntagnachmittagen zuhause. Der Buntstift in meinen Händen könnte die Rosinen rotbraun färben, wenn sie nicht schon aus dem Kuchen gepickt wären, eigenhändig von Herrn Professor Icks für mich. »Da sitzen Sie und schauen auf Ihre Blätter und warten darauf, dass Ihnen jemand irgendwas erzählt. Wie ein kleines, elendes Häufchen Volk sitzen Sie da und lassen die Köpfe in die Notizbücher hinein hängen. Der Professor soll erzählen, er soll endlich anfangen, Ihnen einen Gedanken zur Prüfung vorzulegen, denken Sie. Wozu sind wir denn hier? Soll nicht der Professor uns etwas beibringen, soll er uns nicht ein Sesselchen an der Tafelrunde reservieren? Er hat ja gesagt, wir sollen an die Freunde denken, zuallererst, und zwar nur an die richtigen. Die richtigen, das haben Sie jetzt hoffentlich allesamt verstanden, sind die, die zu etwas nütze sind, die man ein wenig gebrauchen kann, für was auch immer. Mit denen muss man sich abends versammeln und aufs Leben anstoßen, aufs Leben der andern allerdings, weil das eigene bereits betrunken und weh, so weh, unterm Tisch liegt. Schön, wie sich’s da unten im Rausch in ein Sandkörnchen verwandelt, ein zartes, kleines Sandkörnchen, das Sie in Kindertagen in einen winzigen Geschenkskarton gelegt haben, weil die Reise ans Meer so schön war. Einen Milchzahn haben Sie doch auch sicher aufbewahrt, wieso also kein Sandkörnchen vom Meeresstrand.« Justin hebt die Hand. »Ich langweile mich bei Ihrer Rede außerordentlich, Herr Professor. Würden Sie so freundlich sein und die Sache ein wenig in den Vordergrund rücken? Ich erlaube mir, Ihnen das eigentliche Thema aus dem Mund zu nehmen und es als Frage an die Tafel zu schreiben.« – »Bitteschön!« Justin bleibt vor der Tafel kurz stehen, sieht sich um, zu mir, und nicht einmal seine Augenwinkel lächeln. Lächelnde Augenwinkel. Ach. »Unglück, bist du noch da?« schreibt Justin an die Tafel. Herr Professor Icks springt vom Tisch, geht zur Fensterseite und lehnt sich an die Fensterbank, mit verschränkten Armen vor der Brust. Er lacht laut auf, aber jetzt klingt sein Lachen gar nicht wie das des Menschenerforschers, der die Katze vom Balkon wirft. »Sie sind mir ja ein ganz Witziger. Aber bitte, bitte, wenn Sie mögen, lassen Sie meine Kreide entscheiden, wer die Frage in einem Aufsatz, einem einzigen Zug beantworten wird.« Die Kreide trifft meine Wange. Ich hebe den Kopf, aber ich weiß nicht, dass ich den Kopf hebe. Ich weiß gar nichts mehr. »Lina Lorbeer! Sie sind an der Reihe. Sie werden einen Aufsatz zu dieser Frage verfassen und ihn vortragen, hier, vor uns allen, für uns alle. Spielen Sie nicht die Scheue und Schüchterne, Sie können das, ich weiß es, und Sie wissen, dass ich es weiß.« Richten sich jetzt alle Blicke auf mich? Ich weiß es nicht, ich weiß ja gar nichts mehr. Und spiele die Scheue und Schüchterne und bringe kein Wort heraus. A-A-A. »Ach, wollen Sie Abernein sagen, Frau Lorbeer?« Flora lacht am lautesten. Mir fallen die Haare ins Gesicht, ich falle in mein Notizbuch und wandle in meinem ohnmächtigen Schlaf an den Stadtrand. Ich ziehe Schlittschuhe an und fahre, im Schein der
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