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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
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Lorbeer. Und spricht mit einen von dunklen Streifen durchzogenen Lichtkegel, den sie für das Publikum hält. Ist sie verrückt geworden? Hm? Es klopft an ihrer Tür, es bebt, als ob ein Sturm die Tür aufreißen wollte. Dabei ist nur Frau Professor Stein wieder gekommen, um ihre leise und freundliche Frage zu wiederholen: »Mögen Sie, Lina Lorbeer, in meine Dienste treten? Es wird Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Glauben Sie mir, die Dienste schützen Sie vor der jähen Stummheit und den Ohnmachten.« O ja, jaja! schaukelt Lina Lorbeers Antwort da oben hin und her. Denn die Ohnmachten, summt sie weiter, gehen dann sang- und klanglos in eine einzige über, und diese dauert bis zum Tod, und noch über ihn hinaus. Und die Stummheit wird zu Geschwätz, zum belanglosen Geschwätz der besten, der richtigen Freunde, die einem noch in den Sarg hinein ein Dankeschön für die vielen Dienste nachrufen. Leben Sie wohl, Professor Stein! Ich werde eine Windfigur geworden sein! Und trotzdem Körper und Gewicht haben, ein leichtes. – Verehrtes Publikum am Zimmerfenster der Nachbarin, wollen Sie noch mehr sehen in Lina Lorbeers Zimmer? Es klopft ja immer noch an die Tür, aber jetzt so leise, ganz, ganz leise, kaum hörbar. Und herein schaut Herr Professor Icks, aber nicht wahr, Sie erkennen ihn nicht wieder. Ich erkenne ihn auch nicht wieder, ich erkenne ihn von einem zum andern Mal nicht wieder. Er wechselt Kleider und Gesicht so schnell, und sehen Sie, jetzt ist es doch wirklich mit Kreide bemalt. »Verzeihen Sie, Lina Lorbeer, verzeihen Sie. Es war nicht schön von mir, nur wegen des Unglücks an der Tafel meine Kreide auf Sie zu werfen. Und es war nicht recht.« Und was geschieht jetzt, Publikum von drüben, das Sie vom verhangenen Spiegel zum Fenster geschritten sind, um die Wahrheit zu sehen und nichts als die Wahrheit? Oder doch den kleinen Fächer, die vielen, vielen Fältchen zwischen der Wahrheit und der Lüge? (Sie hören, Lina Lorbeer ist bei Professor Icks zur Lehre gegangen, und da gibt’s eben mehr zu lernen als dass eins und eins zwei sind. Eins und eins sind mitunter fünf, auf jeden Fall aber drei.) Und eins, zwei, drei springt oder fällt (entscheiden Sie selbst, so verlangt es das Zeitalter, in dem wir leben) Lina Lorbeer vom Sessel, der Schaukel, mit der sie hoch oben an der Zimmerdecke hin und her schwingt. Ja, denken Sie, jetzt wird Herr Professor Icks nicht anders können als sie aufzufangen und in die Arme zu nehmen, ein paar Sekunden lang. Aber da irren Sie sich sehr, verehrtes Publikum, da irren Sie sich nahezu gewaltig. Alles kommt anders. Aber Ihnen ist die Sicht verstellt. Ein Blatt nämlich, auf das ein Teller gezeichnet ist, in dem eine Rosine, eine einzige, traurige Rosine liegt, lässt Ihre Augen nicht durch. Darum gehen Sie jetzt, gehen Sie schnell nach Hause, ehe die Nachbarin heimkommt und entdeckt, dass Fremde in ihrer Wohnung waren, ja, dass ein Lichtkegel mit lauter Schattengestalten – ein Gitter, das Publikum selbst, ach, die Kommilitonen und Professoren des Instituts für Gedankenkunde und Verstehen – an ihrem Zimmerfenster standen, nur weil der Spiegel von Kleidern verhangen war. Ja, wohin denn sonst, wenn nicht ans Fenster? Und jetzt aber nach Hause, schnell, schnell nach Hause ins Institut, in Ihre Büros, von deren Wänden und Tafeln die Dichter ins Zimmer singen. Womöglich vom Unglück?
    Lieber Jakob, es ist mitten in der Nacht, ich bin eben aufgewacht. Mir ist nicht recht wohl. Wahrscheinlich bin ich ohnmächtig geworden, nur weil Professor Icks eine Kreide auf mich geworfen hat. Wie ich nach Hause kam, weiß ich nicht mehr, vielleicht mit nach vorne gestreckten Armen und Händen, wie blind. Eine Lappalie, ich weiß, zumal sogar ich längst erkannt habe, dass Professoren an Instituten, wo man zum Denken ausgebildet wird, üblicherweise die besten Verstecke und Hinterhalte für Wurfgeschosse kennen. (Ja, so weit mein Auge reicht, schützen hier die Geschosse den Schützen. Glaubst Du, er hält sich darin bedeckt, um nicht mit dem gemeinen Volk verwechselt zu werden? Das gemeine Volk gibt sich doch zu erkennen, wenn es schießt, oder?) Aber hätte mich der Kreidenschuss getroffen, wenn Professor Icks nicht seinen Kuchen mit mir geteilt und mir sogar die Rosinen herausgepickt hätte? War das keine zärtliche Geste, war’s nicht liebevoll? Und er sprach von meiner Zartheit, und ich dachte, wer die Zartheit eines andern anerkennt, anerkennt auch die eigene Zartheit. Und so

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