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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
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gelacht? Alles, alles haben dir die Bücher souffliert, aber das Wichtigste, das Notwendigste, das jemand braucht, der hier etwas werden will, das nicht. Und darauf bildest du dir insgeheim noch etwas ein, bist womöglich noch stolz darauf. Dir ist wirklich nicht zu helfen, Lina, bedauernswert bist du, sehr sogar.« – Ich schlage mein Notizbuch zu, schreibe auf einen Zettel »bitte alles so lassen, mindestens bis morgen«, und wickle den Schal um meinen Unterleib ein wenig fester. Es könnte ja sein, ich stolpere über die Rampe und bleibe auf der Treppe liegen, und Frau Professor Stein kommt vorbei, und bedauert mich so sehr, dass sie aus der Ferne mit den Schultern zuckt. Alles gleichviel, alles gleichviel, nichts zu machen, so läuft das Rad der Welt. Jetzt, während ich durch den Hof gehe, durchtrennt es eine Wolke, eine dichte große graue Wolke, und ward nicht wieder gesehen. Von mir, Lina Lorbeer, zumindest nicht.
    Und immer ist es dieselbe Allee, durch die ich zu meiner Wohnung, in mein Zimmerbild, zurück gehe, manchmal den Blick zu Boden, manchmal geradeaus, selten nach oben gerichtet, zu den kahlen Ästen der Kastanien, hinter denen sich der graue ewige Himmel gar nicht und nie verrücken lässt. Soll ich ihn dafür bedauern, dass es ihm nicht so ergeht wie der Luft im Hörsaal, die wir mit unsern eigenen Händen und Armen und Beinen verschoben haben? Ich möchte lieber nicht, sagt mir der Himmel ins Gesicht, ich möchte lieber nicht von dir bedauert werden, es wäre, nicht wahr, doch zu komisch. Ja, wahrscheinlich, kann sein. Und du, mein Zimmer mit dem fremden Zimmerbild, der armen Kopie, musst du bedauert werden? Soll ich einen Schal um dich wickeln, damit dich kein falsches Mitleid trifft? Lieber etwas Durchsichtiges, ganz, ganz Leichtes. Ich könnte den Geist von Agnes herum hüllen, A-A-A, und tun, als ob’s ein hauchdünner Rockstoff wäre, in den Hände fremde Gedanken gestrichen haben, beinahe zart, wie, um sich bei den fremden Gedanken dafür zu entschuldigen, dass nichts weiter zu tun geblieben ist. Doch, eines schon! Nämlich an Jakob einen Brief zu schreiben –
    Jakob, mein Jakob, bist Du noch da? Merkst Du, dass ich heute schon wieder einen so fundamentalen Tag habe, einen Nachttag, an dem ich die ganze Zeit über zu den sinnlosen Gründen hinabtauchen muss? Dann stelle ich so dumme Fragen wie »Bist Du noch da«? Selbst, wenn Du gar nie da gewesen wärst, könntest Du jetzt schlecht nein sagen, nein, nein, das leuchtet mir gleich ein, sogar unter dem heutigen Himmel, der nicht ganz wie der gestrige Himmel ist, wenn man genau sein will. (Und das will ich, ja, ich habe heute Herrn Professor Icks versichert, dass ich unbedingt fürs Präzise sei. Genau genommen war es anders: Nicht ich hab es ihm versichert, nein, sondern die Regentropfen trugen es mir zu, meine Gedanken, die auf Professor Icks’ Fensterscheibe nicht erkennen konnten, was er mit Bleistift auf ein weißes Blatt schrieb. Und dort, auf dem Blatt, korrigierte er, der Präzision wegen, meine Frage, was mir in dem Augenblick bewusst wurde, in dem ich seinen Text, den mir von den blinden Regentropfen zugeraunten Text, aufschrieb, weshalb ich ihn daselbst darin bestätigte, dass ich sehr fürs Präzise sei.) Ja, weiß Gott, so umständlich kann die Wirklichkeit sein, so intrikat die Wahrheit. ( Intrikat , Jakob, ist eins der vielen Lieblingswörter hier.) Und doch auch wieder nur ein Atemzug, ein Ein- und ein Ausatmen. Ach, Jakob, weißt Du, was der größte Witz ist, ein Aberwitz womöglich? Dass sich alles auch ganz einfach so zusammenfassen ließe: Justin und ich verschoben die Luft im Hörsaal, woraufhin ich wieder einmal in der Bibliothek in einen Dämmerzustand verfiel. Oder, noch kürzer: Frau Professor Stein kam nicht zur Vorlesung. Sei umarmt von Deiner Lina.

XIX.
    Lange kann’s nicht mehr dauern, und ich nehme Mantel und Mütze aus dem Schrank und gehe auf die Straße hinunter, und es wird sein wie jeden Tag, aber ganz entschieden anders. Ich werde nur noch das Profil einer Figur sehen, die sich in langsamen, wachen, aufmerksamen Schritten fortbewegt, wie von Gedanken gezogen und umgeben, die keinerlei Anspruch erheben, bestätigt, verworfen oder begründet zu werden, so vertrauensvoll verlieren sie ihren Willen, jetzt, wo sie ganz mit den Schritten eins geworden sind. Und schon gar nicht wollen sie sich auf Fliegenpapier setzen. Nein, nie mehr wieder. Aber was muss ich erkennen! Ist das eine Kummerfalte auf der einen

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