Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
Vom Netzwerk:
allerkleinster, frecher Teilchen? Atmen Sie! Atmen Sie! Und atmen Sie vor allem aus, atmen Sie das alles wieder aus. Justin dreht sich plötzlich um und fährt kräftig mit seinen Armen durch die Luft. »Ich will sie verschieben, Lina, ich will die Luft verschieben!« Und Lina, vor dem Spiegel, denkt, wie schön: Luft verschieben. Denn gewiss wurde noch niemals, nicht ein einziges Mal, in einem Hörsaal die Luft verschoben, wenigstens nicht mit Armen und Händen und Beinen. Und schon geht ein Wirbel durchs Zimmer, denn zwei Gestalten verrücken mit Armen und Beinen und Händen die Luft. Und siehe da. Flora! Flora. Flora blickt auf, aber sie sieht nichts. Staubteilchen umgeben sie und schweben ganz nah um sie herum. So hätte zu Weihnachten Schnee fallen sollen, zu Weihnachten und zuhause, nicht hier und jetzt und im Hörsaal, ringsum einen einzigen Stapel Bücher und einen Menschen, der davor sitzt, tüchtig, weil Tüchtigkeit mit einem Schreibtisch am Institut für Gedankenkunde und Verstehen belohnt wird. Flora legt sich über die eingelegten Zettel, die Namen und Seitenzahlen und Listen. » Da muss man sein, versteht ihr, aufs Dasein kommt’s an!« – Aufs Liegen über den Büchern? Aufs Erdrücken der Blätter? – »Auf den Schutz, den Schutz der Gedanken! Man muss sie warm halten, versteht Ihr.« – Bei Laune? Man muss sie bei Laune halten, damit sie mit einem befreundet bleiben, vernetzt gewissermaßen? Flora, sind nicht einmal Fische am Grund herumgeschwebt? – »Gefangen, zerhackt und aufgegessen.« Flora! Floras Schultern zucken. Weint sie? Weint sie wirkliche Tränen? Und wir sind schuld, unsere Luftverschiebung? Frau Professor Stein wird nicht mehr kommen, Flora, sie ist so müde und hat mitten im Satz vergessen, was sie sagen wollte, und jetzt, in ihrem Büro, will sie sich in ihrer Unterbrechung nicht stören lassen. Wir können darum wirklich gehen, wir können sogar nach Hause gehen.
    Niemand von uns ist nach Hause gegangen. Flora schreibt im Hörsaal Namen- und Seitenzahlen ab, Justin teilt vor dem Kaffeeautomaten Kaffee für die Vorübergehenden aus, und ich sitze in der Bibliothek, zwischen zwei Stapeln Bücher, die rechts und links neben mir aufgereiht sind, wie Wände, damit ich niemanden sehe und mich niemand sieht, und meine Gedanken, die immer ausstreunen wollen – fort von hier, das ist das Ziel – ein wenig im Zaum gehalten werden. Aber wohin sollen sie denn schon schlüpfen, durch diese kleinen Ritzen zwischen den Büchern? Die Korridore entlang, die Stockwerke hinauf und hinunter, und dann doch wieder nirgendwo sonst hin als in Professor Icks’ Büro. Dort trommeln sie wie die Regentropfen aus den Büchern, die das Beste vom Rest wiederholen, an die Fensterscheibe. Herr Professor, sind Sie noch da? Herr Professor Icks, hören Sie, hören Sie uns durch die Lüfte schwätzen? Herr Professor Icks lässt sich doch nicht von Regentropfen ablenken, ganz und gar nicht. Stattdessen schreibt er auf ein weißes Blatt Papier, mit Bleistift, in zarten, ja, sehr zarten Schriftzügen. Was denn? Aber die Regentropfen am Fenster sind blind, sie können fast nur Hier sind wir, hier sind wir, flüstern, deutlich sehen können sie nichts, schon gar nicht aus solcher Distanz. Professor Icks nimmt die Brille ab, drückt mit dem Finger leicht auf die Nasenwurzel und schaut zur Tür, als hätte er ein Geräusch gehört, ein vorsichtiges Klopfen. Er erhebt sich und öffnet sie. Niemand da. Hier sind wir, hier sind wir, flüstern die Regentropfen. Wir sind gekommen, um zu lesen, was Sie in so zarten Zügen denken. Denn Sie denken doch gewiss etwas? In Ihnen geht doch sicher sogar hier in Ihrem Büro irgendwas vor? Nein, doch nicht? Ganz verschlagene Stimmen haben sie, die Regentropfen. Heiser klingen sie, und nie, niemals wird Professor Icks sie unter solchen Umständen hören, während er mit seinem Bleistift schreibt, Zeile um Zeile und wirklich sehr, sehr zart. Ihr ewigen Regentropfen, ist das so schwer zu verstehen, dass Professor Icks euch nicht hören kann? Da nicken sie mit ihrem Köpfchen und klettern die Fensterscheibe hinauf und suchen sich eine winzige, ja, die engste offene Stelle, durch die sie hindurch kriechen, um dann –. Sollen sie etwa plötzlich vom Himmel auf die schöne Bleistiftschrift fallen und das Papier erweichen? Ja, wenn das so einfach und anderswo als in den Büchern möglich wäre! Siehst du, Lina, jetzt musst du den Text erst recht wieder selber schreiben. Ich öffne mein

Weitere Kostenlose Bücher