König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Notizbuch und schreibe auf, was die Regentropfen nicht lesen konnten. Sind sie nicht eine einzige Verschleierung? Eine einzige, die Fensterscheiben aufklärende Verschleierung?
Immer ist hier Nacht, und nie, niemals hat mich das gekümmert oder gar beschwert. Nacht muss sein, das wird jedem einleuchten, der sich aufs Denken versteht. Wie kommt’s, dass mich plötzlich schaudert, ja, dass mir beinahe graut bei dem Gedanken, dass ich so lange hier ein- und ausgehe, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass ich im Dunkeln tappe? Ich, ein Professor des Denkens, weiß nichts, das heißt, ich weiß, dass Nacht ist und sein muss, und insbesondere für den, der denkt, muss Nacht sein, aber von mir in der Nacht weiß ich nichts. Sehr originell, Herr Professor Icks, sehr originell! Nehme ich mich da nicht geradezu wie die berühmtesten Professoren in den wichtigsten Büchern der Weltliteratur aus? Nein, nein, doch nicht. Welche Anmaßung, mich zu vergleichen! Und weiter: Ich will über mich in der Nacht auch nichts wissen, ich will nämlich gar nichts mehr wissen. Nichts, nichts. Mich ekelt vor allem Wissen. Darum an den Anfang zurück: Was macht die Nacht aus? Was unterscheidet die Nacht vom Tag? Was tun Menschen in der Nacht, was sie bei Tag nicht tun? Sie schlafen, sie träumen, sie geben sich, falls sie noch welche haben, ihrer Lust hin. Sie sitzen die Hälfte davon mit ihren ehrenwerten Kollegen ringsum den Tisch und erheben das Glas auf das Leben der andern, die sie hassen, weil sie leben, wohingegen das der Prostenden unterm Tisch liegt, beschämt, traurig, zornig, in die unendlichste aller unendlichen Fernen gerückt und auf den, der daneben sitzt, verschoben. Und was geschieht? Da, am Horizont, öffnet sich ein winziges Fenster, das von Regentropfen noch ganz benetzt ist, und heraus schaut eine freche Frage: Wer bist du denn? Hm. Wer bist du denn? – Wenn das Lina nicht Lorbeers Stimme ist, will ich doch wirklich nicht mehr Professor Icks heißen! Darf ich Sie korrigieren, Lina Lorbeer, Ihre Frage ist zu ungenau formuliert, man kann sie so nicht stellen. Sie muss um der Präzision willen anders lauten. – Wie denn, Herr Professor? Sie wissen, ich bin sehr fürs Präzise, und deshalb bin ich auch hier und lege meinen Kopf zwischen und in die Bücher und träume mich fort von hier, fort von hier. – Die Frage, Lina Lorbeer, muss lauten: Wer ist das Ich, das sagen kann: »Wer«? – Ooo. Ich verstehe, Herr Professor Icks, ich glaube, ich verstehe, entschuldigen Sie meine Störung. – Gleichviel, Lina Lorbeer, gleichviel. Zurück zur Nacht. Nein, nein. Jetzt habe ich den Faden verloren, den roten Faden, der mich an die Nacht binden wollte, wenn sie ihn nur gelassen hätte. Aber der Herr über die roten Fäden bin ich! Bin ich! Wollte er nicht, wenn er gezeichnet wäre, vom linken oberen Blattrand weit, weit hinuntersausen, in die tiefsten Tiefen? Wenn da nicht ein Schwert käme, um ihn ganz oben schon in Stücke zu spalten, diesen schönen roten Faden. Was soll jetzt dieses Schwert in meiner Nacht? Das kommt wohl aus den Ritterromanen meiner frühesten Kindertage, und ich hab es doch nicht drum gebeten. Geh fort, Schwert! Unsinniges, kindisches, dummes, den Lebensfaden zerstörendes Schwert! – Aber es ist doch nur ein Riss, der den Faden unterbricht, und nur eine Unterbrechung, schauen Sie doch, verstehen Sie doch, Herr Professor Icks: eine Unterbrechung. Nichts weiter! – Wer war das, wer hat das gesagt? – Wer ist dieses Ich, das sagen kann »wer«?
»Träumst du schon wieder, Lina!« Flora hält mir einen Stapel Listen unter die Nase, Namen und Seitenzahlen in ganz gerader Linie. »Warst du wohl wieder in deinem Zimmerbild? Und recht einsam und arm, wie die Figuren aus den Büchern. Du willst wohl eine Heldin werden und dich auszeichnen durch Ich-weiß-nicht-was. Durch so ein Dasein, das gar kein Dasein ist. Dein Dasein ist Fortsein, glaubst du, das bemerkt hier niemand? So gut kannst du dich gar nicht verbergen, dass man dir das nicht an der Nasenspitze ansähe. Und glaubst wohl noch, das sei recht originell und wichtig, wichtig »fürs Volk«. Fürs Volk. Haha. Du hast zu viel gelesen, dir haben ja die Bücher restlos den Kopf verdreht. Wer, glaubst du, hat mir das geflüstert? Wer, glaubst du, hat mir gesagt, du würdest nicht einmal auf geraden Linien Punkte von Beistrichen unterscheiden können? Wer, glaubst du, hat gesagt, dass du nun einmal eben eine empfindsame Natur seiest, und dabei herzerfrischend laut
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