König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
zuerst, aber bald immer kräftiger und deutlicher meinen Text vorlese, sieht er mich die ganze Zeit über an, und noch nie werde ich so von jemandem angesehen worden sein. Ich höre, in solchem Blick, sogleich und schon wieder auf, ich zu sein, ich bin nichts mehr, und eines Tages werde ich glauben, dass dies gut sei. Wird’s noch lange dauern, bis dieser Tag kommt? Jetzt nimmt Herr Professor Icks meine Hand und zieht mich näher zu sich, und mir ist, als ob’s nicht zum ersten Mal geschähe, ja, als ob ich schon einmal, aber anderswo, in diesen Armen gelegen wäre, wie im Schlaf, beinah ohnmächtig, und ohnmächtig vor Glück. Der Ton ist wieder da, der lange, aus der Ferne kommende, wummernde Ton, der das gefrorene Eis am Stadtrand spaltet, und ein paar kleine, helle Flecken tanzen an der Wand. Wissen Sie, was Sie hier tun, Herr Professor? Glauben Sie denn, dass Sie sich morgen noch daran erinnern können? Aber freilich, ich will es ja, will ja umarmt und an den Stadtrand gezogen sein, meine Achter drehen und meine hübsche Geschichte aus der Unendlichkeit ins Eis zeichnen. Welch guter Zeitpunkt für meine Frage: Herr Professor Icks, Sie erinnern mich an jemandem, von dem ich einmal gelesen hatte. Ich Sie womöglich auch? Umarmen sich hier zwei Figuren, zwei Bilder, Herr Professor Icks? Aber nein, ich wiege mach ja hin und her und atme, und Bilder atmen nicht oder anders, und Haut und Haare habe ich, Hände, ganz wirkliche Hände, die schon oft durchs Gras gestrichen sind. Und muss ich nicht sehr darauf bestehen, dass all dies nicht nur für mich, Lina Lorbeer, gilt, sondern auch für Sie, Herr Professor Icks, wenn Sie auch zum Denken ein Büro haben, in dem Sie die Hand nach jemandem ausstrecken? Und dieser Jemand bin jetzt ich oder was ich eben bin, wenn Herr Professor Icks mich in die Arme nimmt, für einen sehr kurzen Augenblick. Irgendwas Unterdrücktes, Beinah-nicht-mehr-wahr-Seiendes will da plötzlich hochkommen und um sich greifen? Oder schlagen? Sollen wir’s lassen, in Ruhe lassen? Herr Professor Icks geht zum Fenster und schiebt die Hände in die Hosentaschen und schaut in den vielen dichten Schnee, und ich stelle mich neben ihn. O ja, jaja, ich schweige, ich werde nichts sagen, ich schweige summend, versprochen. So, mit geschlossenen Lippen, oder? Mmm, mmm, mmm. O ja, und ich vergesse auch gern die Frage, die ich noch stellen wollte, die Königsfrage: Ob der Wahnsinn selbst im König zum Vorschein komme, wenn der Mundschenk ihm die Falten seines Fächers zeige? Ob man mit dem Wahnsinn sprechen könne, als wäre er Vernunft? Ob’s denkbar sei, dass er, der König, wie von sich selbst getroffen, umkippe, nach dem Abgang des Mundschenks? In eine kleine Ohnmacht falle? Oder ist selbst das nur Höffnung, Höffnung, und eine, mit der ich am besten in den Hof verschwinde, wo sich bei diesem Schneesturm niemand aufhält und mich daher auch gewiss niemand wieder erkennt? Ein Märchen soll die Schwermut und den Jähzorn bändigen, nicht ich! Die Steinköpfe werden mir Antwort geben, und wenn nicht die Steinköpfe, dann der Reisende, denn ihn wird doch ein Schneesturm nicht gleich aus der Fassung bringen. Muss ich schweigen, Steinkopf? Muss ich? Muss ich denn unbedingt hier sein? Bin ich nicht ganz und gar verzichtbar geworden, und ist das nicht sehr, sehr schön? Und die Flocken, die vielen, die unendlichen Flocken, fangen meinen Ton auf. Mmm, mmm, mmm. Und am Ende werden sie für mich um den Bockspreis singen? Aber das dauert noch, wie alles noch dauert. Wer hätte gedacht, dass ich hier so sehr das Geduldigsein lerne? Ja, in der Geduld werde ich die besten Noten bekommen. Mit Auszeichnung bestanden! Nicht wahr, Frau Professor Stein, im Geduldsfach bin ich die Beste, so gut waren kaum welche vor mir. Frau Professor Stein? Was tun Sie da?
Frau Professor Stein steht im Hörsaal vor der Tafel, blickt um sich, gähnt (wie ungewöhnlich, dass sie gähnt, sie gähnt doch sonst nie) und meint, sie geriete, bei so viel Schneesturm da draußen, sehr unter Druck und hätte auf ihrem Schreibtisch noch einen so großen Stapel Blätter vor sich liegen: Ob wir so freundlich wären, uns still zu beschäftigen, während sie sich ein wenig darum bekümmere, Klärung und Korrektur in die vielen Aufsätze zu bringen und die fremden Gedanken zu bewältigen? Und schon macht sich Justin, der wieder einmal Schnellste von allen, mit der Kreide an der Tafel zu schaffen, und ich erwarte, aufgeregt bis in die Zehenspitzen, seine
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