König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Komödie, aber mir will keine Träne aus dem Auge fließen. Da, sieh mein Auge an! Kommt da was heraus? Nichts, gar nichts, kommt da heraus. Ich nehme ihm seinen Fächer aus der Hand und fächle mir Luft zu, ich schaue liebäugelnd zu den Sternen, ich zähle die Fächerfalten und sage: Hier, in dieser Falte, wohnt der Vater meines Königs, er ruht im Grabe und lässt es sich wohl sein im Himmel. Und hier, daneben, fliegt die Mutter des Königs wie ein Vogel durch die Lüfte und singt von der Freiheit und wie schön sie sei, wie endlich schön die Freiheit sei! Hast du gehört, König? Deine Mutter singt: »endlich schön«, nicht »unendlich schön«. Und hier und hier und hier (ich deute der Reihe nach auf mehrere Fächerfalten): Sind das deine Tanten und Onkeln, Großväter, Großmütter und Urgroßmütter und Urgroßväter, verstorbene Geschwister, lebende Geschwister und Blumen und Gräser und Steine und etwas, das mit den Vögeln zuweilen knapp überm Boden, über Pfützen und Randsteine von Gehsteigen hinweg flattert? Das ist das wichtigste, mein König. Ich öffne den Fächer, er bedeckt zur Gänze mein Gesicht, ich, der Mundschenk, tanze vor dem König einen Fächertanz, und die vielen, vielen Geschichten der königlichen Vorfahren, die großen und kleinen Vermächtnisse springen und hüpfen vor den Augen des Königs im Zimmer herum und raunen ihm »armer, armer König« zu. Ich hinter dem Fächer verschwinde zur Gänze, ich ziehe ihn nur auseinander und entfalte und vergrößere einmal dieses, dann jenes Bild. Aber der König sitzt immer noch da und schaut und schaut, und düster vermehren sich die Falten auf seiner Stirn, Blässe zieht über sein Gesicht. Schreit er jetzt gleich den Fächer, jede einzelne Falte an, sie sollen endlich ruhig sein? Der König hebt die Faust. Wie kommen diese Phantome in mein Zimmer, he? Fort mit ihnen, fort! – Deine Bitten an das Volk, deine üblen Taten zu verstehen, haben sie gerufen, König! Der König lacht laut. Glaubst du, mich ängstigt solcher Totentanz? Dummer, dummer Mundschenk. Willst du, dass ich mich schuldig fühle? Du vergisst, dass ich, der König, furchtlos bin. Der König lacht und lacht, er klopft sich vor Lachen aufs Knie. Hübsch, sehr herzig, rührend bist du, Mundschenk. So, so lieb. Er steht jäh auf und reißt den Vorhang von der Stange, dass sie entzwei bricht. Er tritt auf den am Boden zusammen gesunkenen Fächer, das schöne Pfauengefieder, meinen Tanz. Nichts als Mundschenkmärchen, lächerliche, dumme Mundschenkmärchen! Ja, freilich, wer kein wahres und wirkliches Leben hat, der muss sich eben ein anderes erfinden. Der Kerker wird dein wahres und wirkliches Leben sein, da kannst du alles zu Ende erzählen. Aber du kannst gar nichts zu Ende erzählen, nicht wahr? Du liebst ja die Unendlichkeit so sehr. Da wird sich der Gefängnisleiter aber freuen. Der König lacht und lacht noch lauter, und ich schleiche aus dem Zimmer hinaus in mein eigenes, und kaum draußen, fällt der König zu Boden und rührt sich nicht mehr.
Kippt der König wirklich um? Ich gehe wieder einmal zum Fenster, als ob da draußen Antwort wäre. Ist er tot, oder stellt er sich tot, oder ist auch solcher Fall sein Königsspiel, ein zwingend geschichtlich-schicksalhaftes, sehr, sehr komisches Ereignis? Jaja, wie soll ich nicht im Kerker landen, mit solchen Fragen! – Wenn ich den König aber verstehen will? Wenn ich begreifen will, was solches Schwanken und solchen Irrtum, solche Lüge möglich macht? Meinen Tanz mit Füßen zu treten! Und die Falten des eigenen Fächers derart zerstört sehen! Zerreißen möchte etwas in mir, damit ich nicht mehr ich sein muss. Nichts mehr sein, gar nichts.
XX.
Draußen schneit es heute kleine, dichte Flocken, und so wirble auch ich über den Gehsteig ins Institut für Gedankenkunde und Verstehen . Das ist mir die rechte Einstimmung für alles, was folgt. Denn ich werde an Professor Icks’ Tür klopfen müssen und fragen, ob ich ihm den Aufsatz, mit dem ich neben Flora und Justin um den Bockspreis singen könnte, vortragen dürfe, auf dass mir jemand erkläre, ob er tatsächlich wirkliches Leben sei? Herr Professor Icks, werde ich sagen, was meinen Sie, ist diese Geschichte glaubwürdig genug, hat sie Wahrheit? Und Herr Professor Icks wird sich auf seinem rollenden Bürostuhl ringsum seine eigene Achse drehen und Fangen Sie an, Lina Lorbeer, zögern Sie nicht, zögern Sie doch nicht mehr, sagen. Und dann, während ich, sehr schüchtern
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