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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
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Professor Stein führt Justin ein und bläst mit Trompeten die große »Unentscheidbarkeit« in sein Lied. Das nenne ich ein wahres Lernen! Und will es ja, will ja unbedingt ganz betört sein. Ich trete näher an das Gedicht an der Wand, den zarten Ton mit den wenigen Worten, und nehm’s in meine Hand. So zerbrechlich kann es gar nicht sein, dass es nicht eine kleine Reinigung verträgt, eine Taufe, eine Berührung mit Schnee. Lampe, bist du einverstanden? Und schaust mir zu, während weiter nichts vor sich geht, als dass ich –, aber – ich – ich – ich – einen Brief an Jakob schreibe, einen Brief aus dem Schnee.
    Lieber Jakob, es schneit, und ich schreibe meinen Brief einfach so in den Schnee. Es wird der Tag kommen, an dem ich ein paar Worte, als ob’s ausgemacht wäre, der Straße vortrage, aber das dauert noch, vorher muss ich noch ganz verloren gehen. Könnte das geschehen, wenn ich’s nicht wollte? Wollen und nicht, mögen, müssen, dürfen – von all dem trag ich kaum noch Ahnungen in mir. Aber was ich jetzt manchmal für eine Wut fühlen kann! Das ist doch Wut, oder, wenn man etwas umwerfen möchte, weil man nicht mehr weiß, wie es sonst sagen? Professor Stein bat uns heute, uns still zu beschäftigen, weil sie sich, bei Schnee so nervös, an die Aufsätze auf ihrem Schreibtisch erinnere. Aber als Justin sie aufforderte, sein kleines Lied, das er mit Buchstaben eben in die Luft geschrieben hatte, dem Volk näher zu bringen und ihn einzuführen, war ihre Nervosität wie weg geblasen und sie mit einem Male ganz die souveräne Frau Professor Stein. Und Du glaubst ja nicht, was sie da gesagt und getan hat: Wie sehr uns sein Lied, das »ganz auf der Höhe des Zeitgeists sei, besteche«, denn wer könne heute schon noch wissen, was zu tun sei. Und wer es zu fühlen glaube, der irre gewiss. Angenommen Jakob, Du wärst das Volk: würdest Du gerne bestochen sein wollen? Zwingend sei es »gleichviel«, dass niemand die Hand heben wolle, hier nicht und da nicht. Kommt Professor Stein deshalb im Moderieren sofort zur Ruhe, weil sie, sobald sie andere Gedanken einführt, etwas ganz Allgemeines wird und darüber endlich ihre eigene Steinigkeit vergisst? Und Justin ist ganz überwunden in dieser steinigen Allgemeinheit und muss zur Decke entweichen. Und wer wird nun eine königliche Allgemeinheit mit der vagen Vermutung bekannt machen, dass es ihren Worten und deren Zusammenhang an Klarheit fehle? Dann zieht mich Professor Icks in seine Arme, um sich von seiner Icksigkeit zu befreien? Nur, was ist »Icksigkeit«? Was Schönes? Ach. Es ist doch schön, wenn ich nicht mehr ganz bin, was ich bin? Lina.

XXI.
    Ich habe die Bank vorm Fenster weg und zur Wand geschoben und ein paar der Kartons mit den alten Tagebüchern darauf gelegt. Sobald die kleine lodernde Flamme auf der schlechten Kopie der »Frau am Fenster« Wirklichkeit geworden ist, lege ich meine Tagebücher ins Feuer. Merkwürdige Gedanken gehen mir jetzt oft durch den Kopf: Es muss ein glückliches Verbrennen geben, eines, dem ich (oder was ich eben bin, wenn ich »ich« sage) mit meinem ganzen Frohsinn zustimme, weil ich gerade verstehe, dass darin meine große Wahl besteht. Seht, ich entscheide mich hier für die einzige Möglichkeit, die mir geblieben ist. Das ist Freiheit. Frau am Fenster, glaubst du’s auch? Und lässt das Dunkel um dich vergehen, deinen Schatten, und erzählst es, ohne den Mund zu öffnen, der Straße weiter, und die Straße oder was da draußen alles stampft und summt und drängt und schiebt, schickt es mir zurück: Sag’s deinen Tagebüchern, ja? Dass sie es nur nicht vergessen! Und die ganze Straße lacht und lacht. Gut. Ich lege die Tagebücher wie Spielkarten in einem Halbkreis vor mir auf den Boden, schließe die Augen, ziehe eines von ihnen heraus und schlage es irgendwo auf. Was sehe ich da? Meinen Brief? Meinen Brief an die Straße –. Denn einer, der nicht mehr lebt und von dem man sich nicht verabschiedet und den man vergessen hat, der lebt ja vielleicht ein wenig in der Luft weiter, und Luft will doch immer von der Straße in mein Zimmer.
    »Lieber …! Verzeih, dass ich Dich als einzige von uns allen nicht mehr besuchen kam. Zuhause fragten mich alle, ob ich nicht doch mitkommen wolle, aber ich wollte nicht. Es half auch nichts, dass sie wiederholten, was sie mir als Kind schon gesagt hatten: dass das Verabschieden wichtig sei, die Traurigkeit auch, und dass sich niemand vor dem Sterben fürchten müsse, auch nicht

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