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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Winkler
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Frage. Justin aber muss vorher wie immer ein wenig mit der Kreide in der Luft herum schwirren, ja, die Buchstaben in die Luft zeichnen, damit wir uns alles selber ausdenken können, ehe daraus Wirklichkeit wird:
     
    Niemandem bedeutet etwas etwas.
    Alles schon da gewesen, alles gleichviel,
    nicht einmal Windhauch im Schneesturm.
    Und die Antworten – müssen sie sein?
    Müssen auf Fragen Antworten folgen?
    Ja oder Nein. Entweder – Oder.
    Wer für Ja ist, hebe die Hand.
    Niemand hebt die Hand?
    Wer für Nein ist, hebe die Hand.
    Niemand hebt die Hand?
    Aha.
    Also alles gleichviel, unendlich gleichviel?
    Aber – ich, ich, ich –
    ein Schneesturm? Eine große Müdigkeit?
    Alles, alles was anderes, was Andres.
    Frau Professor Stein lacht laut auf, wieder so ein Lachen, bei dem mir das Lachen vergeht. Justin dreht sich zu ihr um: »Führen Sie mich ein, Frau Professor Stein! Kommen Sie. Bringen Sie mich dem Volk nahe!« Professor Stein steht wie überwältigt und strahlt wie die Sonne selbst. »Gern, gern, Justin Tander, gern, sehr, sehr gerne mache ich das für Sie.« Vergessen ist die Stillbeschäftigung, vergessen Babel, der schwankende Turm auf dem Schreibtisch? Frau Professor Stein setzt sich auf den Sessel vors Pult, hebt den Kopf und holt tiefen Atem: »Es ist mir eine Freude, verehrte Hörende, Ihnen heute Justin Tander vorzustellen. Erwarten Sie nicht zu viel von mir und meinen Überlegungen, denn es ist noch viel zu früh, eine Gesamtdeutung seiner Gedanken, seines erstaunlichen Werkes vorzulegen. Und doch, wie besticht es uns alle! Justin Tander will uns mit dem Gedanken konfrontieren, dass in der Welt eine schier unerschütterliche Gleichgültigkeit herrsche. Wer da frage, sagt er, bekomme ja doch keine Antwort. Aber Gleichgültigkeit ist nicht einfach Gleichgültigkeit. Nein, nein. Sie pendelt und oszilliert bei Justin Tander gewissermaßen zwischen dem Ja und dem Nein, zwischen dem Entweder-Oder, und die große Frage drängt sich also auf: Kann die Gleichgültigkeit durch diverse schauspielerische Übungen noch aufgebrochen werden? Ein wenig vulgärer formuliert: Sind die Herzen der Menschen noch zu erweichen? Justin Tanders Weltanschauung läuft auf die so genannte »Unentscheidbarkeit« hinaus. Das will sagen, dass man nicht wissen könne, was zu tun sei und dass sich irre, wer denkt, er aber fühle es, er aber wisse es. Nein, nein, frei handeln und sich entscheiden oder ein Herz fassen oder etwas Überraschendes tun – das kann und darf doch keiner, keiner, der denkt. Und darin, dies anzuerkennen, besteht die neue Souveränität, das große Lebensspiel. Dämmern lautet das Gebot der Stunde. Welche Befreiung! Alles Windhauch, nichts weiter, wie bei den alten Weisen. Sie sehen – und es ist mir die größte Freude, Ihnen das zu vermitteln – dass Justin Tander wie kaum einer, der gegenwärtig denkt, sich ganz auf der Höhe des Zeitgeistes befindet, weit, weit oben. Er gehört zu den Allerklügsten, und wir freuen uns sehr, dass er da ist.« Ich stopfe mir ein Taschentuch in den Mund, um nicht laut aufzuschreien oder einen Lachanfall zu bekommen. Die Menge im Hörsaal trommelt mit den Fingern aufs Holz, Floras Gesicht ist ganz von einem hellen Schein umgeben. Einmal so schön sprechen wie Frau Professor Stein! Und wo ist Justin? Justin, seht nur, hat Flügel bekommen, er schwebt jetzt als ein Engel durchs Zimmer, als purer Geist, als eine große Spiegelung des Nichts, das wir hier unten alle sind. Oder ist das auch Schauspiel, großes, allergrößtes Schauspiel? – Reisender, komm und hole mich! – Fort von hier, Lina Lorbeer, nur fort von hier. Willst du vollends verloren gehen? – Ja, vielleicht, vielleicht will ich vollends verloren gehen. Ich will, ich will. Wenn ich nur nicht so lachen müsste, wenn ich nur nicht so ein heftiges Ziehen in Armen und Beinen verspüren würde, so ein Bedürfnis, Tische und Sessel umzuwerfen.
    In der Allee auf dem Weg in mein Zimmer höre ich kaum etwas, wirklich fast nichts, nicht einmal einen kleinen Abgesang von irgendetwas. Kein »Geschiebe und Gedränge« mehr, kein »Gestampfe, Gesurr und Gesumme«. Der viele Schnee hat’s wohl fort genommen. Ja, hat’s fortgenommen, dass keiner sagen kann, es wäre ja doch nur ein Märchen gewesen, ein Märchen fürs Volk. Ich möchte nach Hause und das Fenster öffnen, meinetwegen soll der Schnee mein Zimmer holen, es macht ja doch nichts. Professor Icks zieht mich zu sich auf den Schoß und vergisst es sofort,

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