König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Hälfte ihres Gesichts? Eine tiefe Furche? Grade jetzt! Grade jetzt, wo die Figur so schön und frei vor einer Landschaft schwebt, die es längst nicht mehr gibt, weil sie mehr aus den Büchern der Regale auf der Galerie der Bibliothek kommt. Was hat sie denn nun schon wieder an Vergangenes erinnert, an Trauriges, Dunkles womöglich, an etwas, das nie, nie enden mag. Mag? – Ist’s denn dann so düster, wenn’s nicht enden mag, Lina Lorbeer? – Warst du das, Reisender? – Wer sonst, Lina Lorbeer? – Ach, wer sonst, wer sonst. Glaubst du, nichts und niemand sonst aus der Zukunft käme in Frage, mich zu erinnern? – O, ich wüsste da so einiges und einige. Der Reisende lacht. Auch gut. Dann nehme ich Mantel und Mütze eben aus dem Schrank, ohne dass anderes als alle Tage geschieht. Das Unerwartete lässt sich nicht einfach so herbeizitieren! Komme es, wann es wolle, und möge es mich bis dahin nicht vergessen. Derweil liege ich auf dem Sofa und schlafe, und im Traum bin ich ein Mundschenk und in den Kerker gesperrt, weil ich mich am König vergangen habe. Wüsste ich nur, was ich ihm getan habe! Hab ich die Schwelle in sein Gemach zu wenig schüchtern passiert? War mein reiner Wein nicht bekömmlich? Habe ich ihn zu sehr geliebt? Wie können Mundschenken ihre Könige lieben, ja, mehr sogar als Königinnen Könige lieben, mitunter. Ganze Märchenbücher solcher Liebe könnte ich erzählen. Ich wecke meine Zellengenossin, damit ich jemandem die traurige Geschichte meiner Mundschenkliebe erzählen kann. Ich rüttle so sanft und unnachgiebig wie möglich an ihrer Schulter und flüstere, darf ich dir bitte eine Geschichte erzählen, damit ich dann wieder einschlafen kann? O, das ist Frau Professor Stein. Was machen Frau Professor Stein und ich im selben Gefängnis? Hat sie sich etwa auch am König vergangen? Das muss ein gravierender Irrtum sein! Dem Himmel danke ich dafür, dass Professor Stein einen so guten Schlaf hat und meine Frage nicht hört. Ich rüttle vorsichtig an den Gitterstäben der Zelle, wer weiß, vielleicht kommt jemand vorbei, der nicht am Institut für Gedankenkunde und Verstehen beschäftigt ist und dem ich daher die verrückte Geschichte meiner mundschenklichen Königsliebe anvertrauen kann. Der Gefängnisleiter hat meine Stimme vernommen. »Was willst du?« fragt er mich. – Etwas erzählen. – »Was?« – Ein Märchen, eine Komödie, einen Traum. Such dir was aus! – »Hier darf jeder nur sein wirkliches und wahres Leben erzählen, und auch das nur bei Tag und nur seinen Zellengenossen, niemandem sonst. Andernfalls muss er fürs Zuhören bezahlen.« – Bezahlen fürs Zuhören? Da mögen mir die Sinne schwinden, Gefängnisleiter! Bring mir Papier, schnell. Und einen Bleistift. Schnell, ich habe nicht mehr viel Zeit. – »Du träumst wohl, Lina Lorbeer? Du hast noch viel Zeit, sehr, sehr viel Zeit.« Und der Gefängnisleiter lacht, und ich lache auch, ich lache und lache, und erwache vom Lachen mit ganz nassen Augen und schlage die Decke auf und gehe zum Fenster und öffne es, und kalte Nachtluft strömt in mein Zimmer. Ich wickle mich in die Decke, drehe die Lampe auf und setze mich an den Schreibtisch vors Tagebuch.
Der Gefängnisleiter will nicht begreifen, dass das wirkliche und wahre Leben meiner Figur mit dem Allerweltsnamen eine Komödie ist, ein Traum und ein Albtraum. Meinetwegen ja, ein verhinderter Gesang um den Bockspreis, wie Justin sagen würde. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass er seine Profession gänzlich verfehlt? Ein Gefängnisleiter hat Sorge zu tragen für das Wohl der Insassen in seinem Haus, und Mundschenk-Häftlinge wie ich, die darum bitten, jemandem eine traurige Liebesgeschichte anvertrauen zu dürfen – hätte er ihnen nicht einen Sternen- oder Traumdeuter in die Zelle zu setzen, damit der Kummer schwindet? Ein Traumdeuter, der nichts erklärt, sondern antwortet, indem er auf einen andern Traum deutet, und ein Sterndeuter, der einem beibringt, die Sterne so anzuschauen, dass sie von sich aus zu ihm sprechen, und sei’s auch noch so leise: wären sie nicht sehr, sehr schön? Was sonst soll ein Mundschenk tun, der sich in der Zelle nach seinem König sehnt, an dem er sich gar nicht vergangen hat? Kann sein, ein paar Mal meinte er, er müsse unbedingt an die Kammertür des Königs klopfen und ihm ein paar freche Fragen stellen, seine Königsherrschaft betreffend zum Beispiel: König, ist ein wahrer König, wer nach Lust und Laune herumschreit? Ist ein
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