König Mythor
es mir nicht bestimmt, die Geheimnisse zu ergründen.«
»Aber du hast es versucht.«
»Ich versuchte herauszufinden, warum sich die Prophezeiungen nicht erfüllen. warum der Baum keinen Samen abwirft, der jedes Lebewesen und jede Pflanze auf wunderbare Weise befruchten soll, warum er das Licht nicht in die Welt hinausträgt, die von Finsternis bedroht ist.« Er schüttelte den Kopf. »Es heißt, dass wir Leoniter dazu berufen seien, dieses Vermächtnis des Lichtboten zu verwalten. Doch es heißt auch, dass wir nicht versuchen sollten, seinen Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Deshalb darf niemand außer dem Lebensgärtner an den Baum des Lebens heran. Alles, was wir tun können, ist, die Geister des Lebens und des Lichtes zu preisen und ihnen die Früchte unserer Arbeit zu weihen.«
Das alles klang mutlos und verstärkte nur Mythors Ungeduld. Den ganzen Tag über hatte er sich durch innere Versenkung auf seine Aufgabe vorbereitet, so, wie Hapsusch es wollte, während die Diener des Lebensgärtners zu den Löwen gingen und in einiger Entfernung vom Baum des Lebens Früchte auf dem Boden ausbreiteten, in einer genau vorgeschriebenen Anordnung.
Nun wurde das Warten zur Qual. Immer wieder fragte sich Mythor, was dieser Fixpunkt des Lichtboten an Prüfungen und Belohnungen für ihn bereithalte. Anders als bisher hatte er keinen einzigen Hinweis darauf erhalten.
Wie weit mochten die Wurzeln dieses uralten, erhabenen Gewächses unter der Erde getrieben haben? Bis nach Leone? Befanden sie sich dann schon jetzt im Würgegriff des dämonischen Geflechts?
»Es heißt, dass alles Leben um den Baum herum stirbt, sobald er selbst seine Lebenskraft verliert«, sagte Hapsusch, der Mythors Gedanken zu erraten schien. »Habe Geduld, König. Wenn es der Wille des Lichtboten ist, dass du sein Vermächtnis.«
Schreie unterbrachen den Alten. Zwei seiner Diener kamen schwer atmend in den Tempel und redeten wirr durcheinander.
Mythor brauchte ihre Worte nicht zu verstehen, um zu wissen, was geschehen war.
Es war dunkel geworden. Öllampen und ein großer mit glühenden Kohlen gefüllter Kessel vor dem Tempeleingang spendeten Licht und warfen gespenstisch flackernde Schatten auf die Wände.
An der Spitze der Krieger stürmte Mythor aus dem Tempel, als das Ächzen und Stöhnen der Pflanzen erklang. Was er sah, hatte er erwarten müssen. Dennoch jagte es ihm eiskalte Schauer über den Rücken. Die Männer neben ihm stöhnten.
Zehn, zwölf Mannslängen hoch wogte der Dschungel aus grünen, glatten Strängen durch die Luft. Die Dämonenpflanzen bogen und wanden sich, wie um sich aus dem Bann, den ihnen das Licht des Tages auferlegt hatte, zu befreien. Erste Stränge peitschten weit über den Boden und verschossen ihre Samenspitzen. Die dämonische Armee erwachte, soweit der Blick nach beiden Seiten reichte.
Weit hinten über Leone schien der Himmel zu brennen. Mythor schauderte und umklammerte Altons Griff in unbändigem Zorn, als er sich vorstellte, was jetzt in der Stadt geschah, wie abermals viele tapfere Männer ihr Leben verloren, während die grüne Mauer unaufhaltsam vorrückte, und wie irgendwo außerhalb des Lebensgärtchens am Fluss Frauen und Kinder beteten.
»Vorwärts!« befahl Mythor. »Bringen wir ihnen das Feuer!«
Die Blasebälge wurden auf die heranrückende Pflanzenmauer zugefahren und Pechfackeln in den Feuerkessel gehalten, bis sie brannten. Die Diener des Lebensgärtners nahmen die Armbrüste der Krieger und verschossen Brandbolzen auf das trockene Laub und Stroh, das über und zwischen die während des Tages verbrannten Pflanzen gestreut worden war, und setzten es in Brand. Bei den Blasebälgen, die von jeweils zwei Mann bedient werden mussten, wartete Mythor, ein gutes Stück vom Tempel entfernt. Da zusätzlich Öl über die eingerollten toten Pflanzen geschüttet worden war, dauerte es eine Weile, bis die Feuerwand vor den peitschenden Riesen in sich zusammenfiel. Erste Stränge zuckten durch die Flammen und rollten sich absterbend auf. Die nächsten schossen ihre Saat und die ersten Chimären ab.
Mythors Gläsernes Schwert sang wehklagend, als der Sohn des Kometen es gegen die aus dem Boden springenden Schlangenpflanzen schwang und alles, was da in die Höhe wuchs und in seiner Reichweite lag, wie mit einer Sense niedermähte. Die Tempeldiener hatten Fackeln in den Händen und nahmen den Kampf gegen die schleimigen Ungeheuer auf, die zuckend über den Boden rutschten, blitzschnell ihre Auswüchse
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