König Mythor
schutzlos den Mächten der Finsternis ausgeliefert. Das Licht gebar die Menschen, und die Menschen müssen darum kämpfen, im Licht leben zu dürfen.«
Hapsusch sah ihn erschrocken an. »Was meinst du damit?« fragte er.
Mythor blickte sich ein letztes Mal um. Die Pflanzen reckten ihre Spitzen starr in den blutroten Himmel. Nichts rührte sich. Die Zeit schien eingefroren.
»Du weißt es, mein Freund. Der Baum des Lebens wird sterben, falls nicht einer die Kräfte, die in ihm schlummern, zu wecken in der Lage ist. Der Lichtbote mag ihn gepflanzt haben. Den Menschen, den Kindern des Lichtes, obliegt es, ihn zu benutzen.«
Hapsusch schien erstaunt darüber, solche Worte aus dem Munde Mythors zu hören. Seine Achtung vor ihm stieg weiter. »Ich führe dich zu ihm«, sagte der Lebensgärtner.
»Warte dann auf mich und versuche, etwas von seinem Wesen zu ergründen. Ich komme zu dir, sobald auch ich mich vorbereitet habe.«
Ohne sich umzublicken, schritt der Greis voran. Mythor folgte ihm, das Gläserne Schwert in der Rechten. Die Einflüsterungen des Helms wurden noch stärker, je mehr er sich dem Baum des Lebens näherte.
Vor Hapsusch wichen die giftigen Dornenhecken zur Seite, als habe der greise Lebensgärtner sie mit einem Bann belegt. Hapsusch führte Mythor durch das Labyrinth. Mit sicherem Schritt bewegte er sich durch den Irrgarten, als habe er nie im Leben etwas anderes getan.
Niemand begleitete die beiden Männer. Beim Tempel nahmen die Krieger und Tempeldiener den Kampf gegen die erstarrten Dämonenpflanzen wieder auf, ohne mehr als ein, zwei Stunden Ruhe gehabt zu haben. Sie alle wussten, worum es ging, und das gab ihnen schier übermenschliche Kraft.
Der Tempel war nicht mehr zu sehen, als sich die übermannshohen Dornen ein letztes Mal teilten. Dann lag das Labyrinth hinter den beiden ungleichen Männern. Mythor sah den Baum des Lebens aus nächster Nähe. Das Blätterwerk war über ihm. Unzählige bis auf den Boden reichende Luftwurzeln hingen aus ihm herab, auf den Stamm zu so dicht, dass Mythor dessen wahre Stärke nicht ermessen konnte. Doch er musste erkennen, dass er dieses uralte Gewächs vom Tempel aus zwar gesehen, keineswegs aber in seiner ganzen Erhabenheit erfasst hatte. Hier, unter dem dichten Blätterwerk, das sich wie ein grüner Himmel über ihm ausbreitete, erhielt er einen Eindruck von der Macht, die dem Baum innewohnte. Und doch wusste er, dass er blind war, dass sich ihm diese Macht erst dann offenbaren würde, wenn er hoch in den Baum stieg, bis zur Spitze.
»Dort, wo er der Sonne am nächsten ist«, hatte Hapsusch im Tempel gesagt, »dort wirst du finden, wonach du suchen musst.«
Vergeblich versuchte Mythor, etwas von den Januffen zu erkennen.
Hapsusch bestäubte ihn noch einmal mit den Duftstoffen, die er unter seinem Umhang hervorholte, und reichte ihm nun das Fläschchen.
»Es mag sein, dass sich dir die Wächter des Baumes zeigen, während du auf mich wartest«, erklärte der Greis. »Dann vermeide es, in ihre beiden Gesichter zu schauen, denn wer ihr hinteres Gesicht schaut, verliert seinen Willen, Mythor. Sollten sie herabsteigen und dich angreifen wollen, so bestäube sie mit dem Inhalt des Fläschchens.«
Zwei der beim Baum des Lebens lebenden Löwen kamen ganz nahe heran und blickten Mythor aus unergründlichen Augen an.
»Befürchte nichts von ihnen«, sagte Hapsusch. Der Lebensgärtner nickte Mythor noch einmal zu und schärfte ihm ein, dass er nicht ohne ihn versuchen solle, in den Baum zu steigen. Dann verschwand er, um sich selbst im Tempel vorzubereiten. Mythor stellte keine Fragen. Die Leoniter verfügten über keine Magie, abgesehen von den Fetischen, die überall um den Baum herum ausgebreitet lagen und stark dufteten. Sie alle bestanden aus den Früchten des Lebensgärtchens und schienen etwas bannen zu wollen, was Mythor nicht ermessen konnte. Hapsusch aber schien in seinen Tempel weitere Vorkehrungen treffen zu wollen, die ihm in Mythors Gegenwart untersagt waren. Bestäuben hätte er sich auch hier können.
So wartete Mythor, und mit jedem Herzschlag wuchs seine Ungeduld. Allein gelassen, wurde er von jener Erregung ergriffen, die er nur zu gut kannte. Sie hatte von ihm Besitz ergriffen bei den Wasserfällen von Cythor, in Xanadas Lichtburg und vor Althars Wolkenhort, und doch fiel es ihm schwer, sie zu meistern.
Er bemühte sich, nicht zu denken, sich nicht vorzustellen, was ihn dort oben, hoch in der Krone des Baumes, erwartete. Es würde
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