Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Duldsamkeit zu prüfen. Die beiden Reiter hatten fast das Ende der Siedlung erreicht, als sie an einer zweiten Schenke vorbeikamen. Hätte sich das Schild über der Tür nicht quietschend im Wind bewegt, Hartmann wäre nicht auf sie aufmerksam geworden. Undeutlich konnte man ein aufgemaltes Schwert erkennen.
»Hast du dich entschieden?«, höhnte Ingerimm. »Bin ich ein Lügner, oder ist meine Geschichte nichts als die Wahrheit?«
Hartmann schwieg. Er war es leid, sich auf die Spiele des Alten einzulassen.
Ingerimm lenkte sein Pferd so dicht neben ihn, dass sich fast ihre Knie berührten. »Es kommt immer darauf an, wie man eine Sache sieht. Was dem einen wie eine Lüge erscheint, mag dem anderen eine Wahrheit sein, für die er sein Leben einsetzt. Nehmen wir zum Beispiel Gudrun. Du bist gewiss der Überzeugung, dass sich die Arme in dich verliebt hat. Ob du dieses Gefühl wirklich von Herzen teiltest, weiß ich nicht, aber immerhin warst du gestern früh bereit, dein Leben für ein Weib zu geben, das du einen Tag zuvor
noch nicht einmal kanntest. Was war dein Antrieb? War es die Lust, noch einige sinnliche Nächte mit ihr zu teilen, oder war es allein Edelmut? Sie versteht es, einen Mann zu erfreuen, nicht wahr?«
»Ihr seid widerlich!«
Ingerimm stieß ein lautes, höhnisches Lachen aus. »Betrachten wir die Angelegenheit nun von meiner Seite. Nachdem ich in jener Nacht in meinen Turm hinaufgestiegen war, hatte ich ein längeres Gespräch mit Gudrun. Wie du dir vielleicht unschwer vorstellen kannst, haben wir über dich geredet, Hartmann. Dann habe ich sie zu dir geschickt, um dich auf die Probe zu stellen. Ich wollte wissen, was du für ein Mensch bist!«
»Was für eine schmutzige Lüge!«, zischte der Ritter erbost. »Wie kommt Ihr darauf, dass ich Euch diese absurde Verkehrung der Wahrheit glauben könnte?« Auch wenn Hartmann sich alle Mühe gab, ruhig zu bleiben, trafen ihn die Worte des Alten bis ins Mark. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass Gudrun nicht um seinetwillen gekommen war, sondern eine Buhle war, die ihm ihr Herr geschickt hatte.
»Warum, glaubst du, kam ich zum Kampf gerüstet in den Stall? Denkst du, es ist eine alte Angewohnheit von mir, noch vor dem Morgengrauen mit Schwert und Kettenhemd nach den Pferden zu sehen? Als Gudrun heraufkam, hat sie mir alles von deinen Fluchtplänen erzählt. Wenn es dich tröstet … sie war gerührt und hat um dein Leben gebeten. Aber als ich darauf bestanden habe, dass sie hinabgehen soll, um dich hinzuhalten, bis ich mich gewappnet und das Gesinde geweckt hätte, ist sie meinem Befehl ohne Zögern nachgekommen. Den Rest der Geschichte kennst du.«
Hartmann fühlte sich, als habe man ihm einen Spieß durch den Leib gerammt. »Das stimmt nicht«, stammelte er hilflos, doch er wusste es besser. Alles passte zusammen. »Warum?«
»Weil ich nur sehr wenig Zeit habe, um mir ein Bild von dir zu machen. Am Morgen des Dreikönigstages muss ich mir im Klaren über dich sein.«
»Was für ein unmenschliches Spiel treibt Ihr mit mir? Und warum habt Ihr meine Hand verstümmelt? Gehörte das auch zu Eurer Probe?«
»Die Wunde wird schnell verheilt sein. Erinnerst du dich, wie ich das Schüreisen in den Schnee steckte, um allen auf dem Hof zu zeigen, wie heiß es war? Dadurch ist es abgekühlt. Es geschah, um dich zu schützen.« Einen Moment lang schien der Alte verlegen. Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Außerdem wollte ich sehen, wie lange du deinen Zorn im Zaume hältst. Es wäre klüger gewesen, mich anzugreifen, während ich erzählte. Ich wäre leichter zu überrumpeln gewesen. Aber deine Neugier trieb dich, mir bis zum Ende zuzuhören.«
Hartmann sah den Alten zweifelnd an. War Ingerimm verrückt, oder vermochte er wirklich wie ein Schachspieler immer zwei oder drei Züge im Voraus zu planen? Auf jeden Fall war er ein höchst gefährlicher Gegner.
»Der Sinn all dessen, was wir gemeinsam erleben, wird sich dir erschließen, wenn du mir weiter zuhörst. Du trägst von allen vier Rittern meiner Geschichte etwas in dir. Doch entscheidender ist, worin du ihnen nicht ähnelst. Du wirst begreifen, was ich meine, wenn ich dir erzähle, wie die Drei Könige nach Cöln gelangten.«
ANNO
»Am Tag des heiligen Johannes Klimakos, der so trefflich über den Erwerb der Tugenden und die Bekämpfung der Laster geschrieben hatte, dem dreißigsten Tage des März 1163 also, verließen die Ritter und der Mönch Jerusalem. Es war ein sonniger
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