Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
ein Gebet über die Lippen kam. Bruder Markus, der Ordensritter, der ihn am Tor empfangen hatte, trat an seine Seite.
»Alle, die das Kreuz genommen haben und in Outremer für die Christenheit kämpfen, ziehen auf direktem Weg in den Himmel ein. Sorge dich nicht um die Toten. Bewahre deinen Kummer und deine Fürsorge für jene, die noch unter uns weilen,«, sagte der Ordensritter leise. »Um deinen Freund Anno steht es sehr schlecht. Ein schweres Fieber hat
ihn ergriffen. Er ist immer noch nicht erwacht, und seine Hitze will nicht weichen, obwohl wir ihn in kalte Tücher gewickelt haben. Möchtest du an diesem Abend nicht lieber an seiner Seite wachen? Ich fürchte das Schlimmste.«
Anno starb nicht. Etwas schien ihn in der Welt festzuhalten. In seinen Fieberfantasien sprach er immer wieder von Zenon, ohne dass Ludwig verstehen konnte, worum es ging. Es schien, als fühle sich der Ritter durch den toten Mönch bedroht.
Tage und Wochen vergingen in quälender Ungewissheit. Annos Zustand besserte sich nur sehr langsam. Der einst so kräftige Ritter war bis aufs Skelett abgemagert. Seine Augen waren in die Höhlen eingesunken und das Gesicht von tiefen Falten durchfurcht. In den kurzen Augenblicken, in denen er bei Sinnen war, wirkte er stets gehetzt. Rastlos wanderten seine Augen durch das große Krankenzimmer des Hospizes, und wann immer er einen der schwarz gewandeten Rittermönche sah, zuckte er zusammen und schloss angstvoll die Lider.
Ludwig hatte es nicht über sich gebracht, ihm zu sagen, was mit dem dritten König geschehen war. Nicht, dass er für den Sennberger noch viel empfunden hätte; es war sein eigenes Versagen, das ihn beschämte. Nun würde er, bevor er weiterreiste, den König erneut aus einem Grab befreien müssen.
Jeden Tag unternahm Ludwig weite Streifzüge durch die Stadt. Umgeben von einem doppelten Mauerring mit mächtigen Festungswerken, war Akkon die größte Hafenstadt in Outremer. Alle Orden unterhielten hier Niederlassungen, und die großen italienischen Handelsstädte Amalfi,
Genua und Venedig hatten die Hafenviertel untereinander aufgeteilt. Die Stadt quoll über vor Leben. Selbst der König von Jerusalem unterhielt hier einen Palast, und es hieß, er weile lieber in Akkon als in seiner Residenz in der Heiligen Stadt.
All dies bedeutete Ludwig wenig. Er hatte unter Annos Sachen Zenons Geldbörse gefunden. Ganze Nachmittage verbrachte er in einer Schenke am Hafen und beobachtete die Schiffe, die Akkon anliefen. Schwerfällige Kauffahrer, kleine Fischerboote, die langen, schlanken Galeeren, die gleich riesigen Käfern über das Wasser eilten. So verging der Sommer. Als die Zeit der Herbststürme begann, kamen nur noch wenige Schiffe in den Hafen. Viele lagen nun fest vor Anker, und die Seeleute begannen, die bauchigen Kauffahrer und die Galeeren auf den Winter vorzubereiten. Die Zahl der Pilger, die Akkon erreichten, nahm gleichfalls ab; es wurde ruhiger in den Straßen der Stadt.
Zu Beginn ihres Aufenthalts hatte Ludwig ein paar Seeleute befragt, um herauszufinden, ob der Ordensritter ihn angelogen hatte. Doch es war tatsächlich niemand bereit, eine Leiche auf sein Schiff zu nehmen. Lediglich ein zwielichtiger Genuese hatte angedeutet, dass man vielleicht ins Geschäft kommen könne, doch der Preis, den er für eine Überfahrt nach Süditalien verlangte, war so außerordentlich, dass Ludwig davon absah, ihn noch einmal zu treffen.
Den toten König als eine harmlose Fracht zu tarnen, erschien Ludwig nicht möglich. Unter den Handelsgütern, die sich auf den Kais stapelten, gab es keine Fässer oder Kisten, die für einen Leichnam groß genug gewesen wären. Und würde er eine Kiste von den Maßen eines Sarges oder
noch größer anfertigen lassen, so würde er damit unweigerlich die Neugier der Seeleute wecken.
Schließlich dachte Ludwig sogar darüber nach, ob er es wagen sollte, die Reliquie in der Mitte durchzuschneiden. Dann könnte er sie in einem leeren Weinfass verstauen. Zenon hatte davon gesprochen, dass in seinem Kloster der Kopf Johannes’ des Täufers verwahrt wurde. Ludwig hatte auch von anderen Fällen gehört, in denen nur einzelne Körperteile von Heiligen gerettet worden waren, ja manchmal nur noch Knochensplitter. Doch was war mit jenen geschehen, die Märtyrer des Christentums verstümmelt hatten? Würde er nicht Gottes Strafgericht auf sich herabrufen? Durfte ein Schiff, das einen geschändeten Heiligen an Bord hatte, darauf hoffen, sicher sein Ziel zu
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