Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
erreichen?
Manchmal, in schwachen Augenblicken, überlegte Ludwig auch, ob es nicht das Beste wäre, ein Schiff zu nehmen und einfach davonzusegeln. Anno und den König zurückzulassen. Nach Hause würde er dann allerdings nicht zurückkehren können. Der Erzbischof würde erfahren, wenn er wieder im Lande war. Und wohin sollte er sonst gehen? Er war es müde, in der Fremde zu weilen, wo nur die wenigsten seine Sprache verstanden. Und war es nicht töricht, so kurz vor dem Ziel aufzugeben? Sie hatten den König gefunden! Es musste doch einen Weg geben, ihn nach Italien zu bringen! Wenn das geschafft wäre, dann würde es auch nicht mehr lange dauern, bis er seine Stiefschwester wiederfand.
Am Tag der heiligen Sophia von Rom und ihrer drei Töchter, dem letzten Tag des September im Jahre 1163, trieb der böige Wind zwei Schiffe in den Hafen, denen man ansehen
konnte, dass sie in einen schlimmen Sturm geraten waren. Und wen mochte es wundern, war doch dies ein Tag, auf dem ein Schatten lag, denn Sophia war die Patronin der Witwen in Bedrängnis und Nöten. Ludwig hatte ein klammes Gefühl, eine Ahnung drohenden Unheils, als er zusah, wie die beiden Schiffe anlegten. Eine große Handelskogge, deren Hauptsegel in Fetzen hing, und eine Galeere, die einen ihrer zwei Masten eingebüßt hatte. Beide Schiffe fuhren unter dem Wimpel des goldenen Löwen. Venezianer! Als sie festmachten, wimmelte es an den Kais von Trägern und Schaulustigen. Auch Ludwig mischte sich unter das Volk.
Seeleute vertäuten das Schiff. Breite Planken wurden über die Reling geschoben. Einige Männer trugen Säcke zum Kai hinunter, und dann entstand plötzlich Unruhe. Eine Sänfte aus schwarzem Holz, mit goldfarbenen Schnitzereien und blutroten Vorhängen, wurde von Bord getragen.
Ludwig glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Es war die Sänfte, in der er Marina zum ersten Mal in Konstantinopel gesehen hatte. Konnte es eine zweite Sänfte wie diese geben? Goldene Löwen schmückten die Eckstangen. Grimmige Wachen sorgten dafür, dass sich eine Gasse in der Menge bildete. Immer noch starrte Ludwig wie gebannt. War es möglich … War es ein Wink des Schicksals?
Die Sänfte wurde so dicht an ihm vorübergetragen, dass er sie fast berühren konnte. Die Vorhänge aus dicht gewobenem Stoff machten es unmöglich zu erkennen, wer sich dahinter verbarg. Aber jeder Zweifel war ausgeschlossen. Das war Marinas Sänfte! Als sie vorüber war, schloss sich die Gasse in der Menschenmenge. Ludwig versuchte fluchend und stoßend durchzukommen. Doch bald schon verschwand
die Sänfte in einer engen Straße, die hinauf zu den Palästen der Kaufleute führte.
Verzweifelt sprach Ludwig einen der Seemänner an. »Wer ist mit diesem Schiff gekommen?«
»Enrico Dandolo, einer der mächtigsten Kaufherren Venedigs. Wer sonst würde wegen ein paar Seidenballen mitten durch einen Sturm segeln?«
»Und reist er allein?«
Der Seemann musterte ihn misstrauisch. »In der Sänfte wurde seine Frau von Bord gebracht. Er verbirgt sie stets vor den Blicken der Welt. Es heißt, sie habe Aussatz.«
Der Gedanke an Marina ließ Ludwig keine Ruhe mehr. War sie tatsächlich an Aussatz erkrankt? Lag sie gar im Sterben? Vergebens bemühte er sich, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Dandolo hatte ein großes Haus im venezianischen Viertel bezogen, doch er war dort kaum anzutreffen. Er besuchte Kaufleute, feilschte um Waren und verließ nach drei Tagen die Stadt. Angeblich, um nach Jerusalem zu reisen. Die Sänfte befand sich diesmal nicht in seinem Gefolge.
Ludwigs Unruhe steigerte sich noch. Marina musste zweifellos schwer erkrankt sein, denn früher hatte sie ihren Mann stets begleitet.
Bis die Abenddämmerung über Akkon hereingebrochen war, wartete Ludwig ab. Er hatte sich wie ein Mönch gekleidet, weil er beobachtet hatte, dass Priester im Haus des Kaufmannes ein und aus gingen.
Er musste eine Weile ausharren, bis ihm endlich geöffnet wurde. Eine Dienerin musterte ihn aufmerksam und erkundigte sich nach dem Grund seines späten Besuches.
»Meldet Eurer Herrin, Bruder Tantris vom Orden der
barmherzigen Palmkreuzer habe sich eingefunden. Sie hat nach mir schicken lassen.« Ludwig hielt den Kopf gesenkt.
»Bruder Tantris?«, wiederholte die Dienerin unsicher. »Die Herrin hat sich schon zur Ruhe begeben. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie heute noch einen Gast erwartet.«
»Nun, ich bin tatsächlich einen Tag früher als vorhergesehen in der Stadt
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