Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
holte Ludwig Wasser aus der Tiefe. Es war kalt und schmeckte bitter. Gierig trank er in langen Zügen. Dann half er seinem Gefährten. Anno vermochte kaum mehr zu schlucken. Schließlich, nachdem er ausgiebig getrunken hatte, schlief der Sennberger ein.
Ludwig nutzte die Gelegenheit, sich auf dem Gehöft umzusehen. Nirgends war eine Menschenseele zu finden. In den Ställen stand jedoch Vieh. Wahrscheinlich waren der Herr und sein Gesinde auf den Feldern und würden erst am Abend zurückkehren. Ludwig dachte an seine Kindheit. An die Erntezeit. Wie alles, was Hände hatte, hinausgezogen war, um das Korn einzufahren. Selbst die Alten und die Kinder.
Er riss sich von seinen Tagträumen los und wandte sich zu seinem Gefährten um. Anno war der Kopf auf die Brust gesunken. Schweiß perlte ihm von der Stirn. Er stöhnte leise. Schlief er? Ludwig blickte auf das Messer in Annos Gürtel. Vorsichtig streckte er die Hand danach aus. Er hielt den Atem an. Zoll für Zoll näherte sich seine Hand dem Griff der Waffe. Mit spitzen Fingern zog er den Dolch aus der Scheide. Die Klinge war schon zu mehr als der Hälfte aus der Lederhülle geglitten, als der Sennberger die Augen aufschlug. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Ludwig. »Du wirst mir den König nicht stehlen! Nicht du und nicht die Sarazenen oder Zenon!« Annos muskulöse Hände klammerten sich um seine Kehle.
Verzweifelt versuchte sich der Ritter zur Wehr zu setzen, aber Anno schien in seinem Wahn neue Kräfte gefunden zu
haben. Immer stärker drückte er. Ludwig spürte, wie ihn die Kraft verließ. Seine verzweifelt umhertastende Linke fand einen lockeren Stein in der Brunneneinfassung. Er riss den Stein hoch und schlug ihn Anno gegen die Schläfe.
Der Sennberger schrie auf und taumelte zurück. »Du, du willst mich töten … Allein willst du den König haben.« Schwankend kam er wieder näher.
Ludwig rang nach Atem. Seine Kehle schmerzte, als hätte er flüssiges Feuer geschluckt. Er wollte Anno mit ein paar Worten beruhigen, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Voller Angst erkannte er, dass nicht Fieber, sondern Wahnsinn in Annos Augen funkelte.
»Du wirst mich nie … mehr bestehlen!«, flüsterte Anno gefährlich leise. Dunkles Blut lief ihm in die Stirn. Er zog sein Schwert und machte einen Schritt auf Ludwig zu.
Ludwig wich zurück. Wieder drang ihm statt besänftigender Worte nur ein Krächzen aus der Kehle. Er hob die Arme, um seinem Gefährten zu zeigen, dass er unbewaffnet war, doch Anno schien in ihm gar nicht mehr den Freund, sondern nur noch einen Dämon zu sehen, der ihm den heiligen König rauben wollte.
»Fahr zur Hölle, Sünder!« Der Sennberger packte sein Schwert mit beiden Händen und schwang es hoch über den Kopf.
Im nächsten Augenblick zuckte der Ritter zusammen und stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden.
Ludwig schaute sich um. Am anderen Ende des Hofs stand ein junger Mann. Er hielt eine Lederschlinge in den Händen und sah misstrauisch zu Ludwig hinüber. Der Ritter streckte die Arme vor, damit der andere sehen konnte, dass er keine Waffe bei sich trug.
26
Der Bauer zügelte den Eselskarren vor einem großen Gebäude. Er hatte sie nach Akkon gebracht. Ludwig war sich sicher, dass er nicht allein aus christlicher Nächstenliebe gehandelt hatte. Gewiss war er froh, diese beiden abgerissenen, unheimlich aussehenden Männer so weit wie möglich von seinem Hof entfernt zu wissen.
»Das Hospital.« Der Bauer deutete auf das hohe Tor des Gebäudes. »Hier werden christliche Pilger aufgenommen.«
Ludwig nickte. Er griff in die Börse, die er Anno abgenommen hatte, und gab dem Bauern drei Silbergroschen. Der Mann lächelte überrascht. »Ich werde dir helfen, deinen Freund hineinzubringen.« Seit ihn der Stein am Kopf getroffen hatte, war der Sennberger nicht mehr aufgewacht. Nur gelegentlich hatte er wie im Fieberwahn vor sich hin gemurmelt. Gemeinsam hoben sie Anno vom Karren. Noch bevor sie das Portal des Pilgerhospizes erreicht hatten, kam ihnen ein junger Ordensritter entgegen, der wie ein Mönch in eine schwarze Kutte gekleidet war. Er warf nur einen kurzen Blick auf Anno und winkte dann zwei Männer herbei, die im Schatten des Torbogens gedöst hatten. Sie brachten eine Trage, die aus zwei gesplitterten Lanzenschäften bestand, zwischen die ein fleckiges Leintuch gespannt war.
Der Ordensritter kniete neben dem Sennberger nieder, betastete vorsichtig die Verletzung an der Schläfe und strich ihm über die
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