Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
kalt von ihr reden? Hast du denn kein Herz, Vater?« Clara konnte nicht fassen, wie er sich verhielt. Maria war ihr ganzes Leben lang immer für sie da gewesen. Und nun sah es so aus, als würde sie durch ihren Tod eine Last. Man sollte um sie trauern! Doch bei ihrem Vater war von Trauer keine Spur zu entdecken.
»Es wird dem Erzbischof nicht mehr gefallen, uns in seiner Nähe zu wissen. Das wird ihn jedes Mal an diesen Giftanschlag erinnern. Und wer weiß? Vielleicht wird er sich sogar bei der Kaiserin gegen dich verwenden.«
»Aber …« Clara sah fassungslos zu Anno auf. »Sie hat uns doch so lange Jahre ergeben gedient? Gilt das alles nichts? Maria war wie eine Mutter für mich.«
Anno versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Sie wich erschrocken zurück. Ihr Vater zitterte am ganzen Leib.
»Vergleiche nie wieder eine Dienstmagd mit deiner Mutter.
Deine Mutter war das wunderbarste Geschöpf, das jemals auf dieser Erde gelebt hat.«
Für einen Herzschlag stand Clara wie versteinert. Fassungslos sah sie ihren Vater an. Nie zuvor hatte sie ihn so erlebt. Ihr stiegen Tränen in die Augen, obwohl sie mit aller Kraft dagegen ankämpfte. Clara wandte sich ab und rannte zum Eingang des Zeltes. Dort drehte sie sich noch einmal um. Er sollte sie jetzt aufhalten. Sich entschuldigen … Ihr Vater zitterte noch immer. Und er sagte nichts. Was war er nur für ein Mensch!, dachte Clara verbittert. Wie konnte man so kalt und ungerecht sein? Sie schlug die Zeltplane zurück und rannte hinaus in die Nacht.
Clara wartete noch einen Augenblick, bis sie ganz sicher war. Die hochgewachsene Gestalt mit dem Bart und den langen Haaren, das konnte nur einer sein … Seit Einbruch der Dämmerung hatte sie gebetet, dass er hierherkommen würde, doch im Innersten ihres Herzens hatte sie es kaum zu hoffen gewagt.
Der Ritter sah sich um. Ob er ihre Nähe spüren konnte? Hörte er, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, wenn sie ihn sah? Jetzt blickte er genau in ihre Richtung! Ihr Mund war plötzlich trocken.
Er ging an ihr vorüber. Ganz nah. Seine Umrisse zeichneten sich gegen das silbern schimmernde Wasser deutlich ab. Clara erhob sich. »Herr Heinrich, Ihr habt mich gefunden.« Hätte sie nichts gesagt, wäre er ohne Zweifel weitergegangen. Aber warum hatte sie nicht andere, schönere Worte gefunden statt dieser törichten Bemerkung? Warum benahm sie sich nur ausgerechnet ihm gegenüber wie eine Närrin?
»Clara?« Er drehte sich um und kam auf das Dickicht zu. »Seid Ihr es, Herrin?«
Sie bog einen Ast zur Seite und trat vor. »Wie habt Ihr mich gefunden? Ihr seid der Erste, der hierherkommt.« Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber es klang romantischer als: Ihr seid der Dritte, der hier langläuft, aber der Erste, mit dem ich reden will!
Heinrich lächelte. »Ich habe mir überlegt, wohin ich mich in einer solchen Nacht zurückziehen würde. Dieser kleine Wald am Fluss wäre auch meine Wahl gewesen.«
Clara seufzte. Das war ein Zeichen! Sie waren wie eine Seele. Die Erinnerung an Marias grausamen Tod verblasste. Es kribbelte in ihrem Bauch, als hätte sie einen Krug ganz jungen Wein getrunken.
»Herrin, Euer Vater ist in großer Sorge um Euch.«
»Ich will ihn nie mehr wiedersehen!« Clara drehte sich ein wenig, damit Heinrich ihre geschwollene Wange sehen konnte. »Er hat mich geschlagen und angeschrien! Er …« Sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu weinen. »Mein Glück interessiert ihn nicht.«
Heinrich legte den Kopf schief. Seine Augen glänzten im Mondlicht. »Aber er hat Euch doch einen Platz unter den Kammerfrauen der Kaiserin verschafft. Die meisten Mädchen würden ihre Ehre geben, um …«
»Ich bin nicht wie die meisten Mädchen!«, unterbrach sie ihn zornig. »Am Hof zu sein ist für mich schlimmer, als die Qualen des Fegefeuers zu erdulden.«
»Clara!« Heinrich schlug ein Kreuz und sah sich um. »Sprecht nicht so leichtfertig von Eurem Seelenheil«, fuhr er in strengem Ton fort. »Der Versucher weilt stets unter
uns. Wenn Ihr so redet, ist es, als würdet Ihr ihn geradewegs herbeirufen.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, erklang im Wald der Ruf einer Eule. Clara trat näher an Heinrich heran und blickte zu den schwarzen Bäumen zurück. Fast erwartete sie, einen gehörnten Unhold in den Schatten zu sehen, doch an Heinrichs Seite hatte sie keine Angst. »Verzeiht«, flüsterte sie. »Es ist so vieles geschehen … Maria …« Nun konnte sie die Tränen doch nicht länger
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