Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
zurückhalten.
Heinrich legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie sanft an sich heran. Mit der anderen Hand strich er ihr übers Haar. »Ich weiß … Es tut mir leid, was mit Maria geschehen ist.«
In dem Augenblick, als er sie in den Arm nahm, schien ihr ganzes Unglück wie eine himmelhohe Welle über Clara zusammenzubrechen. Sie begann noch heftiger zu schluchzen. Warum konnte sie sich nur nicht besser beherrschen? Doch trotz allen Unglücks fühlte sie sich in seinen Armen zugleich so geborgen wie nie zuvor in ihrem Leben. Es war unheimlich, wie sehr Freud und Leid zu gleicher Zeit ihr Herz zerrissen. Heinrich war fast ein Fremder, und doch wusste er die richtigen Worte zu finden. Viel besser als ihr eigener Vater, der sie ein ganzes Lebven lang kannte.
»Gewiss wird Maria im Himmelreich den Lohn für all ihre Mühsal empfangen. Die alte Amme hat Euch geliebt, als wäret Ihr ihre eigene Tochter, und nichts wird einem mehr vergolten als Liebe und Großmut.«
Heinrich konnte reden wie ein Priester, auch wenn er mit seinem Bart aussah wie ein wilder Heidenkrieger. Was für ein wundervoller, eigenartiger Mensch er doch war! Langsam versiegten Claras Tränen. Zweifellos hatte er Recht
mit dem, was er über Maria sagte. Seine Worte waren wie Balsam für ihre Seelenqual. Bis ans Ende ihrer Tage könnte sie ihm zuhören.
»Bitte rette mich, Heinrich.«
Der Ritter erstarrte. Sie konnte spüren, wie sich seine Muskeln spannten, so als stünde er einer plötzlich aufgetauchten Gefahr gegenüber. »Wer bedroht Euch, Herrin?«
Clara hätte sich ohrfeigen mögen. Da war es wieder, dieses verhasste Wort, das eine Welt zwischen sie legte, auch wenn er sie noch immer in den Armen hielt. Herrin! »Lass uns fliehen, Heinrich, fort vom Krieg und meinem Vater. Sieh, wie er mich geschlagen hat, als sei ich nicht mehr als ein störrisches Maultier!« Sie löste sich aus seinen Armen. »Ich halte es am Hof der Kaiserin nicht mehr aus. Man behandelt mich wie eine Bäuerin, nur weil ich nicht so schön daherrede wie die anderen und dunklere Haut habe. Kein Tag vergeht, ohne dass die anderen Mädchen mich verhöhnen. Ihr seid ein Ritter. Ihr habt doch geschworen, die Schwachen zu schützen! Helft mir!«
Sie konnte trotz der Dunkelheit sehen, wie sich Sorgenfalten gleich Schattentälern in Heinrichs Gesicht gruben. »Es tut Eurem Vater gewiss schon leid … Er … Er macht sich Sorgen um Euch, Herrin. Und … Ihr kennt doch meinen Eid. Ich bin Gott versprochen.«
So unsicher hatte Clara den Ritter noch nie erlebt.
»Heinrich!«, dröhnte plötzlich eine raue Stimme durch die Nacht.
Erschrocken trat der Ritter einen Schritt zurück, so dass sie nun wieder auf mehr als Armeslänge auseinander standen. Wütend sah Clara den Fluss hinauf. Wie hatte ihr Vater sie hier nur finden können? Bei Gott, das war nicht gerecht!
»Hierher, Anno«, rief der Ritter und winkte mit dem Arm. »Hier ist deine Tochter! Es ist alles in Ordnung.«
Die Art, wie Heinrich vor dem letzten Satz gezögert hatte, ließ Clara aufblicken. Wusste er, was er ihr antat? Hätte er ihr geholfen, wenn ihr Vater nicht in diesem Augenblick gekommen wäre? Sie seufzte. Das würde sie jetzt wohl nie mehr herausfinden. Ihr Vater machte einfach alles kaputt. Er zerstörte ihr Leben und war noch überzeugt, ihr Gutes zu tun. Anno stürmte durch das Gebüsch und nahm sie in den Arm, als hätte er sie ein paar Wochen lang nicht mehr gesehen. Doch richtete er nicht ein einziges Wort an sie. Stattdessen bedankte er sich überschwänglich bei Heinrich, der ihm seine geliebte Tochter zurückgebracht hatte. Ihr Vater nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her, so wie man ein ungehorsames Pferd am Zügel nahm. Heinrich blieb am Fluss zurück und blickte ihnen nach.
Erst als sie fast schon das Zelt erreicht hatten, wandte sich Anno zu ihr, und seine Worte klangen wie das Zischen von Wasser, das auf einen heißen Stein fiel, so sehr bemühte er sich, nicht zu schreien. »Tu das nie wieder! Ich habe meine Seele verkauft, um dich an den Hof der Kaiserin zu bringen. Wenn du noch einmal fortläufst, dann werde ich dich verprügeln, wie du es noch nie erlebt hast!«
Wenn ich noch einmal fortlaufe, dann werde ich dafür sorgen, dass du mich nicht mehr findest, und wenn ich dafür ins Wasser gehen müsste, dachte Clara mit einer Ruhe, die sie selbst erstaunte.
Heinrich stand noch lange am Ufer der Adda und betrachtete das fein gewobene Silbernetz, das vom Licht des Mondes
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