Königin der Engel
Ichbewußtsein. Sie ist brillant, der großartigste Denker der Welt – wahrscheinlich ein hellerer Kopf als jeder Mensch. Aber sie weiß nicht, wer sie ist.«
»Das dachte ich mir.«
»Trotzdem, in ihren frühen Jahren – seinen frühen Jahren – gelang es Jill, etwas bemerkenswert Landschaftsähnliches zu entwickeln. Ihre Programmierer haben es vor ein paar Jahren entdeckt, und Samuel John Baker – er ist der dritte Hauptkonstrukteur und -pro-grammierer nach Roger Atkins und Caroline Pastor – hat mich zu sich geholt, nachdem sie das IPR dichtgemacht hatten. Ich kannte ihn schon von der Uni her. Er hatte ein paar Jahre Psychologie, Medizin und Therapie studiert, als Ergänzung zur Denkertheorie. Ich hatte mich ziemlich viel mit Denkertheorie befaßt… Das weißt du ja.
Wir arbeiteten zusammen, um herauszufinden, warum Jill eine Landschaft besaß. In der Anfangsphase vor fünfzehn Jahren basierte Jill auf Tiefenprofilen der fünf Hauptkonstrukteure Atkins, Pastor, Baker, Joseph Wu und George Mobus. Sie hatten sich chirurgischen Nanoscans unterzogen, wie man sie bei einer Hypothalamustherapie durchführte. Das war damals noch eine ziemlich experimentelle Prozedur. Sie destillierten die Muster, die sie fanden, ohne so recht zu wissen, was sie bedeuteten, und versuchten, sie Jill einzupflanzen. Damals hieß Jill noch nicht so. Atkins hat diesen Namen erst später aus einer Laune heraus benutzt. Eine alte Freundin oder so.«
Martin hörte aufmerksam zu.
»Was sie taten, war so, als ob man totes Fleisch in eine Zentrifuge werfen und hoffen würde, es würde wieder ein Tier draus werden. Eine richtige frankensteinsche Verzweiflungstat. Vielleicht war es auch einfach brillant. Wie dem auch sei…«
»Es hat funktioniert«, sagte Martin.
»In gewisser Weise. Wir haben jetzt eine vage Ahnung, wieso es überhaupt funktioniert hat – sie benutzten Persönlichkeitsorganisations- algorithmen, und die sind robust und fast universell. Wenn man solche Muster in irgendein geeignetes Medium mit freier Energie einsetzt, fangen sie von vorne an.
Jill übernahm etwas von all ihren Konstrukteuren. Wie man sieht, hat es nicht zum zündenden Funken zur Entwicklung von Ichbewußtsein gereicht. Aber in Verbindung mit dem, was sie bereits besaß, eine ungeheure Denker- und Speicherkapazität, verlieh es ihr eine echte Tiefe und machte sie in gewissem Sinn anders als alle zuvor gebauten Denker.«
»Sogar anders als AXIS?«
»Tja, das ist eine gute Frage. AXIS ist notwendigerweise simpler als Jill. Aber AXIS basiert ebenfalls auf Persönlichkeitsscans von Atkins und den anderen; auf früheren, nicht so vollständigen Scans. Atkins behauptet, daß AXIS wahrscheinlich noch vor Jill Ichbewußtsein erlangen wird. Das sagt er jedenfalls, wenn man unter vier Augen mit ihm spricht. Er denkt, daß sie die arme Jill vielleicht mit zu vielen widersprüchlichen Algorithmen vollgestopft haben, ganz gleich, was sie dadurch an Tiefe und Qualität gewonnen hat.«
»Hört sich mystisch an.«
»O ja, das ist es, und er ist es manchmal auch. Atkins. Sehr moralistisch. Aber er glaubt aufrichtig, daß AXIS ein reinerer Fall ist.«
»Also, was ist nun mit der Landschaft.«
»Die Algorithmen, die Jill übernommen hat, suchen automatisch nach einem Substrat von mentaler, innerer Sprache. Jill hatte keine. Deshalb erfanden die Algorithmen eine, im nachhinein. Der ganze Vorgang muß neun oder zehn Jahre gedauert haben, so daß Jill kaum mehr ein Kleinkind war, aber die Algorithmen begannen Einzelheiten aus dem Gedächtnisspeicher und dem sensorischen Apparat aufzusaugen und arbeiteten sich in die Vergangenheit zurück, um so etwas wie eine Landschaft entstehen zu lassen. Als Mobus und Baker das herausfanden, hielten sie es für eine Katastrophe. Sie dachten, sie hätten einen selbst erzeugten Virus in dem Denker gefunden.«
Martin lachte. »Kann ich mir lebhaft vorstellen.«
»Sie versuchten, die Sache zu stoppen, aber es gelang ihnen nicht. Jedenfalls nicht, ohne Jills höhere Funktionen abzuschalten. Nachdem sie sich ein Jahr lang den Kopf zerbrochen und alle möglichen Untersuchungen angestellt hatten, wandte sich Baker an mich. Er war zu dem Schluß gekommen, daß sie es vielleicht wirklich mit einer Landschaft zu tun hatten, wie du sie beschrieben hattest. Und das war ja auch der Fall.«
»Warum hat er sich nicht an mich gewandt?«
»Weil du bis zum Hals im Dreck gesteckt hast und er die Publicity nicht rechtfertigen konnte.«
Martin
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