Königin der Engel
visuellen Schärfe, die es nur im Traum oder in der Landschaft gibt, sah Martin diese hängengebliebenen Leichen, als ob sie nur ein paar Meter entfernt wären. Ihre Gesichter hatten viel mehr Charakter als all die Gespenster, die in der Stadt herumwimmelten; verwesende Gesichter, aus denen Vergeblichkeit und Tod sprach, mitleiderregende Scherben von Gesichtern, so viele, daß man sie nicht zählen konnte. Und Martin konnte kein einziges Opfer wiederfinden, das einmal aus dem Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit geraten war; statt dessen waren es immer neue, immer andere Leichen.
Carol schrie auf und trat beiseite. Ein verwester Arm löste sich von einem Leichnam hoch oben in der Kuppel und klatschte mit einem gräßlichen Laut auf den gefliesten Boden. Martin ging um das abgetrennte Glied herum, nahm Carol in die Arme und hielt sie fest.
| Das ist ein Alptraum, sagte sie. Sowas haben wir in der Landschaft noch nie gesehen!
Er nickte, wobei sein Kinn auf ihren Kopf schlug. Nüchtern stellte er fest, daß er Carols Bild ohne alle Hintergedanken umarmte. Er war einfach zu ihr gegangen, um sie zu beschützen und sein eigenes Entsetzen wenigstens durch die Simulation von körperlichem Kontakt ein wenig zu lindern.
Bei ihren früheren Reisen in die Landschaft war das Gelände surreal und traumartig, aber nie alptraumhaft gewesen. Der Horror und die Panik des echten Alptraums rührten von Fehldeutungen und falschen Einordnungen psychologischer Inhalte knapp unterhalb der persönlichen Wahrnehmungsschwelle her; Erinnerungen und phobische Eindrücke mischten sich willkürlich mit vielen Schichten aus großer Tiefe heraufgeholter Bilder. Die Landschaft in ihrer reinen Form war noch nie ein Ort des Horrors gewesen…
| Vielleicht sehen wir einen Übergang zu einer anderen Ebene, die höher ist als die Landschaft, gab Martin zu bedenken.
| Das glaube ich nicht, entgegnete Carol. Auf welcher Ebene sollte das einen Sinn ergeben? Das ist hier und jetzt. Der Knochenfriedhof in der Höhle, die Gebeine oder das Geschirr oder was auch immer am Stadtrand… Das paßt alles zusammen, Martin.
Dem mußte er zustimmen. | Sag mir, was es deiner Meinung nach bedeutet.
Carol schüttelte den Kopf. Sie schob ihn sanft weg. Ein weiteres Stück unidentifizierbaren verwesten Fleisches fiel herunter und schlug mit Übelkeit erregender Überzeugungskraft ein paar Meter entfernt auf. Die Gespenster wichen auseinander und gingen um die Fliesen herum, auf denen die Leichenteile gelandet waren.
| Finde das Telefon oder was immer wir suchen und laß uns zusehen, daß wir weiterkommen, sagte Carol. Martin stimmte ihr zu. Er wollte hier nicht mehr Zeit verbringen als nötig.
Sie gingen durch die Gespenster hindurch, ohne auf Widerstand zu stoßen, und versuchten, Telefonzellen oder irgend etwas anderes ausfindig zu machen, womit sie eine direkte Verbindung zu einem Machtzentrum herstellen konnten. Bei ihren früheren Erkundungen hatten Martin und Carol solche strategischen Arrangements vorgefunden: Ob sie bei deren Erschaffung mitgewirkt hatten oder nicht, konnten sie beide nicht wissen, aber sie hatten sich als nützlich erwiesen.
Jetzt jedoch war nichts dergleichen zu sehen. Sie kehrten zum Fuß der belebten Treppe zurück. | Das alles könnte eine Fassade sein, sagte Carol. Wir kommen nicht weiter.
Martin teilte ihre Frustration. Er holte seinen Werkzeugkasten herunter und warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatten zehn Minuten in der Landschaft verbracht, ohne etwas Wichtiges zu erfahren, abgesehen von der Tatsache, daß die Tiefenschicht von Goldsmiths mentalem Apparat anders als alle war, die sie je zuvor bereist hatten.
| Dann probieren wir’s mit einem Sprung zu einem anderen Kanal, sagte er. Aber es könnte sein, daß wir uns vollkommen aus der Landschaft rausjutzen.
| Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen.
Martin schnappte sich den roten Kasten und zog ihn weiter herunter, um sich die Anzeigen anzusehen. Kanalkoordinaten, die sie bereits passiert hatten, rollten auf einen Druck seines imaginären Fingers hin über das Display. Er löschte sie und begann mit der Suche nach einem neuen, aber unmittelbar angrenzenden Kanal, fand mehrere mögliche Kandidaten und wollte gerade den Schalter für ihren Transfer drücken, als Carol seinen Arm berührte und ihn bat, noch zu warten.
| Da ist irgendwas oben auf der Treppe, sagte sie und zeigte hin. Er blickte hinauf. Selbst durch die dahineilenden Gespenster hindurch war ein schwarzer
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