Königin der Engel
Fleck mit den Umrissen eines Menschen und weißem Gesicht zu sehen, der dort stand und nach unten schaute. Martin versuchte, ihn deutlicher zu sehen – das Vorrecht visueller Schärfe an diesem Ort in Anspruch zu nehmen, wo Raum eine echte Fiktion war –, aber es gelang ihm nicht.
| Das ist was Neues, sagte Carol. Laß uns rausfinden, was es ist, bevor wir jutzen.
Sie stiegen langsam die Treppe hinauf und näherten sich dem Fleck. Er bewegte sich nicht und ließ auch nichts von der nervösen, unruhigen Belanglosigkeit der Gespenster erkennen. Er schien eine kontinuierliche Präsenz zu besitzen, einen konkreten Charakter, obwohl Martin sein Wesen nicht positiv fand. Wenn überhaupt, dann empfing er einen Eindruck kalter Negativität, je näher sie kamen, genau das Gegenteil dessen, was man von einer Figur in der Landschaft erwartete.
Sie langten am oberen Ende der Treppe an. | Es hat eine Maske auf, sagte Carol.
Die Figur drehte sich lässig und langsam zu ihnen um. Ihr Körper war ein Schatten oder eine Rauchwolke, die feste Form angenommen hatte; über ihrer Gesichtslosigkeit trug sie eine angeschlagene Keramikmaske, die stark jenen ähnelte, die am Stadtrand weggeworfen oder in der Müllhöhle aufgehäuft worden waren. Diese Maske vermittelte nicht viel mehr als die Bemühungen eines erbärmlich schlechten Kunsthandwerkers der Vergangenheit; sie versuchte vergeblich, ein starres Lächeln nachzuahmen. Die Augen waren leere Löcher. Die einzige Farbe war ein blasses Pink auf den Wangen, das in dem sonstigen toten Silikatweiß sehr auffällig war.
| Was bist du? rief Martin die Figur an. Da er noch nie auf einen solchen Bewohner der Landschaft gestoßen war, wußte er nicht so recht, ob dieser der Sprache mächtig war.
Der Schatten hob den Arm und richtete ihn auf sie; der ausgestreckte Finger war ein Kringel aus schwarzem Ruß. Er gab ein hohles, wortloses Gemurmel von sich, wie Wasser, das in einen leeren Eimer tropft, und kam auf sie zu. Seine Umrisse verwischten sich, nur die Maske behielt ihre scheinbare Festigkeit. Carol wich zurück; Martin blieb stehen, wo er war.
Der Rußfinger berührte ihn und nahm ihm die Hand und den Arm weg. Sie verschwanden einfach. Er spürte keinen Schmerz.
| Arm und Hand, kommt zurück, sagte Martin mit einer Gelassenheit, die er – wie ihm klar wurde – nicht empfinden sollte. Das Glied kam zurück, und er war wieder ganz. Der Schatten wich zurück und verbeugte sich mit unaufrichtiger Unterwürfigkeit.
| Was ist das? fragte Carol. (Große, aber kontrollierte Angst.) Was hat es mit dir gemacht?
| Es hat ein großes Stück von meinem Bild weggenommen, sagte Martin.
| Das geht doch hier gar nicht.
| Anscheinend doch.
| Aber was hat das zu bedeuten? An unseren Bildern herumzupfuschen… was soll das bringen?
Der Schatten kam auf Carol zu, wobei er wieder größer und unschärfer wurde. Sie wich zurück. Martin trat dazwischen und breitete die Arme aus, als wollte er den Schatten umarmen. Dieser zog sich zurück.
| Das ist zuviel, bei weitem zuviel, sagte Carol. (Die Angst gewann die Oberhand.)
| Halt meine Hand fest, riet Martin. Sie packte sie und klammerte sich daran fest.
| Da sind noch mehr, sagte sie und zeigte mit ihrer freien Hand hin. Hinter den Türen teilte sich der Strom der Gespenster, und das hektische Gewimmel ebbte ab. Weitere Schatten mit Keramikmasken kamen in den Bahnhof, lässig, finster und wachsam.
Martin suchte in seiner Erinnerung nach einem Hinweis darauf, was sie da vor sich hatten. Das Gefühl der Negation war stark; diese Schattenfiguren standen im Gegensatz zu allen normalen Funktionen der mentalen Tiefenschicht. Er fragte sich einen Moment lang, ob sie auf etwas wirklich Übernatürliches gestoßen waren, verwarf diesen Gedanken jedoch wieder, wobei er sich vor Ärger über sich selbst schüttelte.
| Vielleicht ist es an der Zeit, daß wir rausgehen und uns neu formieren, sagte er. Er wußte nicht, was passieren würde, wenn diese Gestalten imstande waren, ihre Bilder vollständig auszulöschen. Er wollte es auch gar nicht herausfinden.
Sie holten ihre Werkzeugkästen herunter.
| Mal sehen, ob wir denen entwischen können, sagte Martin. Es widerstrebte ihm sehr, die Sondierung als Besiegter aufzugeben. Das war noch nie passiert. Wie sollte er das Albigoni erklären?
Er langte nach oben, um die Kanalkoordinaten einzustellen. Die gesamte Szenerie um sie herum ruckte und flackerte, aber sie hatten die Regler noch gar
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