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Königin der Engel

Königin der Engel

Titel: Königin der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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mein Kind. Jetzt will er dich sehen. Er will dir ein paar Fragen stellen.«
    Sie führt ihn zu einer Tür, macht sie auf und zerrt ihn hindurch, obwohl er nicht will. »Ich habe Martin Emanuel mitgebracht, Sir«, erklärt sie und geht durch einen Perlenvorhang in ein spärlich eingerichtetes Zimmer. In der Mitte des Zimmers stehen zwei Throne. Der eine ist leer, und auf dem anderen sitzt ein kahlköpfiger Mann mit breitem Gesicht und platter Nase. Die Lederhaut seiner Augen ist gelb und trüb.
    »Du bist gekommen, um uns Fragen zu stellen«, sagt der Mann mit dem breiten Gesicht. Martin steht vor ihm, Madame Roach hinter ihm. Carol ist nirgends zu sehen.
    »Ich muß mit jemand sprechen, der hier die Macht hat.«
    »Das bin ich«, sagt der Mann. Sein Gesicht wird hager, die Haut weiß und das Haar grau. »Ich bin Sir, und ich habe hier die Macht.«
    Martin weiß instinktiv, daß dies nicht der Repräsentant von Goldsmiths Primärpersönlichkeit ist. Das ist alles falsch. Es nimmt die falschen Formen an; solche Repräsentanten erstehen nicht aus Schatten, Alpträumen oder Dunklen Männern.
    »Ich muß demjenigen, der hier die Macht hat, Fragen stellen.«
    »Oh, er hat hier die Macht«, sagt Madame Roach.
    »Seit der Beerdigung hat er das Kommando übernommen.«
    »Wo ist Emanuel Goldsmith?«
    »Bist du das nicht?« fragt Sir. »Oder bist du sein Zwillingsbruder?«
    »Nein, ich bin es nicht.«
    »Du mußt den Bürgermeister meinen.« Der Mann mit dem breiten Gesicht lacht. »Den jungen Bürgermeister. [vi] Der ist ganz von selbst gestorben. Ich habe ihn nicht angerührt. Er ist ganz von allein die Treppe hinuntergefallen.«
    Martin ist übel. »Ich muß ihn sehen.«
    Der Mann mit dem breiten Gesicht steht auf, nimmt Martin Emanuels ausgestreckte Jungenhand, macht sie auf, zeigt auf einen Blutfleck auf der Handfläche, lächelt kopfschüttelnd und führt ihn durch einen weiteren Perlenvorhang in ein Zimmer. In der Mitte steht ein Sarg auf einer Bahre. Der Mann mit dem breiten Gesicht stößt Martin Emanuel grob zu dem Sarg. »Da ist der Bürgermeister. Darum geht es doch bei der Beerdigung, hat sie dir das nicht gesagt?«
    Martin wirft widerstrebend einen Blick über den Rand des Sargs. Auf den weißen Satinpolstern ist der Abdruck eines Körpers. Aber es ist kein Körper zu sehen.
    »Kraftlos und schwächlich. Ein fader gros bön ange. War er immer schon. Er ist einfach immer schwächer geworden«, sagt Madame Roach.
    »Wie konnte er sterben? Er war der primäre.«
    »Er hatte Angst, weiß zu sein«, sagt Madame Roach. »Er dachte, er sei weiß wie die Dämmerung, und er hat nie an sein wirkliches Ich geglaubt.«
    »Er war nicht weiß, oder?« fragt Martin.
    »Er war schwarz wie die Nacht, schwarz wie das Herz eines ungeschnittenen Baumes, schwarz wie die Füße eines Berges, schwarz wie eine unentdeckte Wahrheit, schwarz wie die Brust einer Mutter, schwarz wie junge Liebe, schwarz wie die Kohle, in der die Sonne ihren Schatz verbirgt, schwarz wie ein Mutterleib, schwarz wie das Meer, schwarz wie die schlafende Erde. Er hat nur nicht an sich geglaubt. Nicht mehr, seit er Sir aufschlitzen mußte.«
    Martin dreht sich um und schaut den Mann mit dem breiten Gesicht an. Er sieht das Gesicht von Colonel Sir John Yardley und dann den Kadaver in dem Glas.
     
    »Ich habe versucht, es ihm beizubringen«, sagt der Mann mit dem breiten Gesicht. »Ich habe ihn immer wieder verprügelt, um einen Mann aus ihm zu machen. Nur Leid und keine Freud, würde ich sagen. War vergebliche Liebesmüh bei dem Jungen. Das Leben hat ihn wie Säure in einer engen Metallrinne zerfressen. Er war schwach. Ich war Stein, er war Dreck. Er hat mich getötet, aber jetzt bin ich wieder da, und Strafe ist zu gut für uns alle.«
    Martin faßt an den Rand des Sargs, greift nach dem Abdruck im Satin und berührt statt dessen kaltes Fleisch. Er zieht die Hand schnell zurück und zwingt sich dann, die unsichtbare Gestalt erneut zu berühren; er ertastet die Umrisse eines jugendlichen Gesichts mit einem leichten Stoppelbart, geschlossenen Augen und schlaffen Lippen.
    »Jetzt ist er wirklich weiß«, sagt Madame Roach. »Weiß wie Luft.«
    Martin dreht sich zu Sir um. »Wie lange bist du schon an der Macht?« fragt er.
    »Immer schon, glaube ich«, sagt Sir. »Selbst als er mir die Kehle durchgeschnitten hat, der kleine Mistkerl, war ich an der Macht.«
    »Du lügst. Du bist niemand«, sagt Martin nicht nur mit seiner Stimme, sondern auch mit der von Carol. »Du

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