Königin der Engel
Menschen und den Häusern herzogen. Er war also noch in der Landschaft – aber nicht in der von Goldsmith, soviel war sicher.
Er setzte sich abrupt auf den Bordstein. Vor seinen Augen drehte sich alles. Als sich die Bilder wieder stabilisiert hatten, merkte er, daß etwas hinter ihm stand, warm wie eine winzige Sonne. Er warf einen Blick über die Schulter und sah einen jungen Mann mit sandfarbenen Haaren, der mit einem besorgten Lächeln auf ihn herunterschaute.
| Sind Sie okay? fragte der junge Mann.
| Ich weiß nicht.
| Sie sehen nicht gerade so aus, als ob’s Ihnen sonderlich gut ginge, deshalb frage ich.
Eine vertraute Stimme. Ein leidlich verständlicher, schleppender Dialekt aus dem Mittelwesten, Selbstsicherheit ohne Überheblichkeit. Martin beschattete seine Augen gegen die Sonne, ohne daß es wirklich nötig gewesen wäre – die Helligkeit war nicht unangenehm –, und musterte den jungen Mann eingehender.
Vertraute Gesichtszüge. Kurze Nase, braune Augen unter seidigen roten Brauen, üppiger Mund mit prägnanten Grübchen.
| Dad? sagte Martin. Er stand auf und taumelte wieder, als die Bilder schwankten. Mein Gott, Dad?
| Dad hat mich noch keiner genannt, sagte der junge Mann. Jedenfalls keiner, der so alt war wie Sie.
Martin streckte die Hand aus, um den jungen Mann zu berühren, nahm das Baumwollgewebe seines Hemds zwischen die Finger und fühlte das feste Fleisch darunter. Der junge Mann schüttelte Martins Hand friedfertig ab. | Kann ich Ihnen irgendwie helfen?
| Kennen Sie einen Martin Burke? fragte Martin.
| Hier gibt’s einen Burschen namens Marty. Ein junger Kerl. Ungefähr neunzehn.
Martin wußte, wo er war. Er hatte schon vor langer Zeit in seinen Träumen, seinen Tiefenmeditationen erfahren, daß sein eigenes inneres Bild – das Bild, das seine Primärpersönlichkeit annahm – etwa im Alter von neunzehn Jahren festgelegt worden war.
Er war in seine eigene Landschaft des Geistes versetzt worden.
Ihm war völlig schleierhaft, wie so etwas passieren konnte. So kurz nach der Phase der Angst und der Desorientierung überstiegen die Implikationen sein Fassungsvermögen. Er hatte einen Kreis beschrieben und war in seinem tiefsten Innern herausgekommen, etwas, das seiner Überzeugung nach völlig unmöglich war.
Die Züge des jungen Mannes mit den sandfarbenen Haaren verzerrten sich, und er erbleichte. Er schaute Martin über die Schulter und zeigte mit einem Finger dorthin. | Wer ist das?
Martin spürte eine eisige Kälte in seinem Rücken, als ob da ein Eiszapfen wäre, der alle Wärme absorbierte. Er drehte sich um.
Der kahlköpfige Mann mit dem breiten Gesicht stand mitten auf der Straße. Seine blinden weißen Augen waren auf ihn gerichtet. Blut spritzte stoßweise aus seinem durchschnittenen Hals auf die weiße Mittellinie.
| Wer ist das? wiederholte der junge Mann erschrocken. Reif bildete sich auf seinen roten Augenbrauen und seinen Haaren, und seine Haut wurde so blau wie Eis.
»Sie kommen nicht raus«, sagte Margery. »Wir bekommen immer noch Werte, als ob sie noch in der Landschaft wären.«
Erwin umfaßte sein Handgelenk und rieb es. Er murmelte etwas vor sich hin, dann tippte er mit drei Fingern auf die Anzeigen. Er bückte sich und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe sowas noch nie gemacht. Wir haben noch nie unterbrochen.«
»Ist das die Latenz?« fragte Margery.
»Es ist vier Minuten her. Ich habe keine Ahnung, wieviel Zeit der Prozeß in Anspruch nimmt…«
»Burke hat gesagt, es könnte Minuten, sogar Stunden dauern«, sagte Margery.
»Ich hoffe bei Gott, daß es nicht so ist«, gab Erwin zurück. »Sehen Sie sich Neumans Werte an. Sie taucht noch tiefer ab, unter den neutralen Schlaf. Ich glaube, sie geht in den Tieftraumschlaf über.«
»Glauben Sie, daß Goldsmith ihnen irgendwas getan hat?«
»Wenn ich wüßte, was da los ist, wäre ich ein verflunztes Genie«, fauchte Erwin. »Versuchen wir, sie zu sich zu bringen.«
| Ich kann dich fressen, so sicher, wie ich hier stehe. Ich habe den Jungen gefressen, die Zwillinge. Ich habe deine blonde Frau gefressen. Sie wohnt jetzt in meinem Bauch. Ich kann das hier fressen…
Sir machte eine ausholende Handbewegung, die die gesamte kalifornische Kleinstadt umfaßte.
Martin warf einen raschen Blick auf das kalte, reglose Bild seines jungen Vaters – eine Nebenpersönlichkeit, ein Teil seiner eigenen tiefen Selbstachtung. Er liebte dieses Bild und das, was es über
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