Königin der Engel
mit dem sie eine gesetzliche Verbindung eingehen wollte. Die innere Stimme des Einsamkeitswunsches. Als einzelner ist man nur solange eine Festung, wie man allein ist. Zu zweit ist schon eine Bresche geschlagen.
Er nahm ihre Hände und drückte sie. Sein Lächeln kehrte zurück. »Mein Studio ist ganz oben. Da ist alles fertig, schon seit zwei Wochen. Ich hab meine Sachen schon vorher reingebracht. Es ist immer noch ein bißchen warm – Abwärme vom Nano. Nicht unangenehm.«
»Geh vor«, sagte sie und versuchte, die morgendliche Anwandlung von Zuneigung wiederzubeleben. Sie fragte sich, ob das Gefühl, das sie beschlich, ein nichtneutraler Fehler war. Sie hatte es bei Ernest schon früher verspürt, konnte es aber immer noch in eine warme Zuneigung hüllen und vergessen: Vorsicht.
Mary erinnerte sich daran, wie sie Ernest zum erstenmal begegnet war.
»Da ist Licht«, sagte er und stieß eine Flurtür auf. »Und so viel Platz.«
Vor zwei Jahren. Sie war gerade befördert worden. War auf eine Party im Nord-Comb Eins gegangen, um sich in Begleitung eines männlichen Transformierten zu entspannen, den sie in einem Karriereseminar der Zeitarbeitsagentur kennengelernt hatte. Mary hatte quer durch den Raum gehört, wie Ernest spitze Bemerkungen in eine Unterhaltung gutgekleideter Combkünstler und ihrer Langanzug-Manager eingeworfen hatte. Damals war er schroffer gewesen; er hatte gewußt, wie brillant er war, und seine Frustration hatte ihn bitter gemacht. Geistreich, aggressiv, auf charmante Weise unhöflich: die Künstler und Manager hatten sich prächtig amüsiert und dabei das gelassene und oftmals aufreizende Benehmen der Therapierten an den Tag gelegt.
Mary hatte zugehört und ihn nicht sonderlich gemocht, aber als sich ihre Wege später kreuzten, während die Partygäste ihre zufälligen Kreise zogen, hatte er sie ohne mit der Wimper zu zucken und ohne jeden lüsternen Blick als Transformierte akzeptiert, hatte ein paar interessante Dinge über die Künstlergemeinschaften im Schatten gesagt und ihr mit jungenhaftem Stolz eine Projektion, die seinen Anzugärmel in eine Karawane von Clowns verwandelte, und eine Nanobox gezeigt, die Porträts aus Strandkieseln herstellte. Er hatte ihr ein Bildnis von ihr selbst in Schiefer gegeben, das er in diesem Augenblick aus einem Stein in seiner Tasche gemacht hatte. Dann hatte er seine Bewunderung und den Wunsch geäußert, auch unabhängig von dieser Party mit ihr zu sprechen. Sie hatte ihm einen Korb gegeben, obwohl sie sich jetzt schon mehr zu ihm hingezogen fühlte, aber seine vorherige Taktlosigkeit hatte sie immer noch abgestoßen. Er war hartnäckig geblieben.
Ernest sagte etwas, und die Studiotür ging auf. Mary trat ein, als das Licht in dem weitläufigen, kreisrunden Raum aufflammte. Grelles Scheinwerferlicht umriß einen hohen, breiten Schatten. In einem Alkoven über ihnen und hinter der Tür leuchtete eine Reihe zusätzlicher Lampen.
Im hinteren Teil des riesigen Raumes lag die Gestalt einer vielleicht zehn Meter langen und sechs Meter hohen nackten Frau, den verlängerten Arm erhoben und nach einem in der Luft hängenden Würfel greifend, die Hüften überzeichnet, wechselweise Segmente aus Chrom und glänzender, frischer Bronze, das Knie eine Silberscheibe auf Bronze, der Ellbogen eine goldene Scheibe, die Augen in tiefem Schatten versunken. Einen schwindelnden Moment lang fragte sich Mary, ob die Skulptur so schwer war, daß sie durch den Boden fallen und sie alle in brodelnde Proschinenpaste stürzen lassen würde.
»Sie ist nicht schwer. Das ist kein Metall«, sagte Ernest. Er tänzelte vor Begeisterung einen schnellen Quickstep. »Das meiste ist nicht mal da. Und das ist der einzige Hinweis, den ich dir gebe. Nur zu! Geh auf Entdeckungsreise!«
»Ist sie fertig?« fragte sie zögernd.
»In ein paar Wochen. Noch einige Verbesserungen. Sie soll zehn bis zwanzig Jahre lang jedem Menschen gefallen, immer wieder was Neues. Nur zu! Faß sie an!«
Mary näherte sich widerstrebend der Kreatur, das Gesicht gesenkt den Blick nach oben gerichtet die Lippen zusammengepreßt. Woher sollte sie wissen, was ihr bevorstand? Sie hatte genug von Ernests Arbeit gesehen, um zu wissen, daß die äußere Form stets nur ein sehr kleiner Teil des Werks war. Sie schaute rasch nach links rechts oben und unten, um das Flimmern von Projektoren, das Schimmern von Laserlicht oder irgend etwas aufzuschnappen, was ihr einen Anhaltspunkt gab. Mary hatte nicht viel für
Weitere Kostenlose Bücher