Königin der Engel
die Leute bei Madame de Roche und was sie ihnen erzählt hatte. Sie hatte den Besuch des Selektors erwähnt. Sie waren ziemlich beeindruckt gewesen; keiner von ihnen hatte jemals die Aufmerksamkeit eines Selektors auf sich gezogen. Sie hatten Besorgnis, ja sogar Furcht zum Ausdruck gebracht. »Sie haben mir gesagt, daß du vorläufig nicht kommen sollst«, schloß sie und blickte von der Couch aus traurig zu ihm hoch.
»Ehrlich?«
Sie nickte.
»Dann habe ich mehr Zeit zum Arbeiten.«
»Ich will dich nicht alleinlassen«, sagte sie. »Es hat mich einiges gekostet, wieder hierherzukommen. Mut, meine ich.« Sie rümpfte die Nase. »Ich dachte, du würdest das vielleicht anerkennen und mir gratulieren.«
Richard lächelte. »Du bist eine tapfere Frau.«
»Wir könnten in den Salon gehen. Du weißt schon. Ins Pacific.«
»Ich würde lieber hierbleiben.«
»Sie könnten zurückkommen.«
»Ich glaube nicht. Heute ist der erste Weihnachtstag, Nadine.«
Sie nickte und schaute auf die zugezogenen Vorhänge vor den Fenstern. »Als ich noch klein war, hat mir das wirklich was bedeutet.«
Richard warf einen sehnsüchtigen Blick auf seinen Schreibtisch und das wartende Papier. + Sie wird nicht weggehen.
»Ich möchte gern schreiben.«
»Ich bleibe hier sitzen, und du schreibst. Ich mache das Abendessen.«
+ Sie will nicht gehen. Sag ihr, daß sie gehen soll.
»Na schön«, sagte Richard. »Aber ich muß mich konzentrieren. Bitte.«
»Du meinst, ich soll still sein. Man sollte meinen, ich könnte den Mund halten, Richard, aber so leid es mir tut… Na ja, ich will’s versuchen.«
»Bitte«, beharrte er.
Sie preßte die Lippen zusammen wie ein zahnloses altes Weib. Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm den Statikschreiber in die Hand, warf eine geladene leere Zeile aufs Papier, begann mit einem >Ein< und löschte es dann wieder, blies die Flocken mit einem dünnen Pusten auf den Teppich.
Ich bereitete alles sorgfältig vor, weil ich wußte, daß meine Kleidung sauber bleiben mußte. Ich wollte nicht, daß sie kamen und mich zwangen, meinen Plan in die Tat umzusetzen, aber so geschah es; um die Graberde von meinem wahren Ich wegzuschaufeln, mußte ich diese Zeremonie durchführen. Vielleicht würde ich in ein paar Tagen zu Madame gehen und dort etwas Ähnliches tun. Ich hörte abrupt auf, das Messer zu reinigen, denn ich erkannte mit einem Schock, daß sie diejenigen waren, die ich in Wirklichkeit loswerden mußte; nicht diese armen Grünschnäbel, die zu mir wie zu einem Vater aufgeschaut hatten. Aber ich mußte trotzdem weitermachen. Um meiner Dichtung willen, die in mir abgestorben war; auf der Flucht, von allen gehaßt, aus dem Luxus meines Comblebens vertrieben, konnte ich wieder von vorn beginnen, konnte mich auf dem Land verstecken und mehr Zeit dem Schreiben widmen, fern von den ständigen Ablenkungen
»Richard? Kann ich was zum Abendessen einkaufen gehen? In der Küche ist nichts, und ich werde deine Karte benutzen müssen. Meine ist gesperrt.«
»Nimm meine«, sagte Richard.
»Ich gehe jetzt. In einer halben Stunde bin ich zurück. Wo ist der beste Markt hier in der Gegend?«
»Angus Green’s. Zwei Blocks die Christie runter und dann die Salamander rauf.«
»Okay. Den kenne ich. Willst du was Bestimmtes?«
Er sah sie mit hochgezogener Augenbraue an, und sie preßte erneut die Lippen zusammen. »Tut mir leid.« Sie machte die Tür auf und warf einen raschen Blick zu ihm zurück, aber er saß schon wieder über den Schreibtisch gebeugt, und sein Statikschreiber bewegte sich emsig. Sie schloß die Tür. Schritte auf dem Beton, die sich entfernten.
Ablenkungen und (/-dem Luxus-/) da kam die erste Ankündigung der Türstimme. Es ging los. Eine neue Stunde, ein neuer Tag. (/-Das Jahr Eins.-/) Der Beginn einer neuen Zeitrechnung: der erste Augenblick, der allererste Anfang. Ich machte die Tür auf und lächelte.
ZWEITES
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Da war ein Mensch. Wir, die wir noch Sünder sind, können diesen lobenden Titel nicht erlangen, denn jeder von uns ist nicht einer, sondern viele… Seht, wie der, der sich als einer dünkt, nicht einer ist, sondern ebensoviele Persönlichkeiten zu besitzen scheint als Launen, wie es auch in der Heiligen Schrift heißt: »Ein Narr ändert sich wie der Mond.«
- Origenes, IN LIBRUM REGNORUM
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LitVid 21/1 C-Netz Streiflichter (Philosophischer Kommentator Hrom Vizhniak): »Was wir bisher gesehen haben, ist eine
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