Königin der Engel
aufhalten würden. Wir therapieren uns selbst – und damit will ich nicht sagen, daß Therapie unwirksam ist, denn dieser Drang zu echter geistiger Gesundheit ist eins der Wunder des mittleren einundzwanzigsten Jahrhunderts. Ich selbst wäre ohne Therapie nur die Hälfte dessen, was ich jetzt bin… In meinen Augen ist das Widerstreben der Untherapierten, ihre Angst vor dem Verlust ihrer Individualität grundlos. Ich bin nicht als menschliche Null bekannt, wissen Sie. Manche finden, daß ich ziemlich couragiert bin. Aber ich schweife ab.
Wir bestrafen uns auch selbst, und das ist die unerfreuliche Seite unseres Strebens nach Reife. Was wir noch nicht verstehen, versuchen wir mit Schmerzen zu sühnen. Unser durch Selbstmord ums Leben gekommener Präsident Raphkind und seine verfassungswidrigen Bestrebungen, die amerikanische Politik zu einer gewissen Einförmigkeit des Ausdrucks zu bringen, sein Versuch, alles zu unterdrücken, was er als destruktiven Dissens bezeichnete… Sein Versagen als Staatsmann, sein traumatisches Versäumnis, die Form unseres Rechtssystems zu ändern…«
Durrell: »Ja, aber was ist mit dem binären Jahrtausend?«
Vizhniak: »Was soll ich dazu sagen? Es ist einfach blöd. Früher hatten binäre Zahlen einmal gewaltige Bedeutung, weil sie die Basis aller Computersysteme waren. Jetzt ist das binäre Rechnen überholt; die simpelsten Computer arbeiten mit neurologischen Multistate- und Ramping-Methoden… Diese Leute, die das binäre Jahrtausend ausrufen, sind altmodisch und von gestern, wie so viele Apokalyptiker in früheren Zeiten. Sie sind faul, was ihre Wunder betrifft. Sie wollen, daß man ihnen die Wahrheit auf einem Offenbarungstablett reicht, ein Geschenk von Gott oder einer wohltätigen höheren Macht. Das binäre Jahrtausend ist nur ein weiterer fauler numerologischer Zauber.«
Durrell: »Glauben Sie, daß die Entdeckungen von AXIS mit dieser Bewegung verknüpft werden können? Daß AXIS am ersten Tag des neuen Jahres etwas enthüllen könnte, was so profund, so umwerfend ist, daß wir alles, was wir vorher gedacht haben und gewesen sind, neu bewerten müssen?«
Vizhniak: »Meine liebe junge Freundin, Sie hören sich selbst wie eine Chiliastin an. Aber das nächste binäre Jahrtausend wird natürlich viel länger dauern als tausend Jahre…«
Durrell: »Noch einmal zweitausendachtundvierzig Jahre.«
Vizhniak: »Und die Entdeckungen von AXIS werden uns mindestens so lange beeinflussen, ganz gleich, was AXIS findet. In unseren jungen Jahren der Reife werden wir die Sterne erforschen; wir werden B-2 persönlich besuchen. Das wird eine wunderbare Zeit sein. Also haben diese Leute vielleicht doch recht, auch wenn sie uns auf die Palme bringen. Die Entdeckungen von AXIS sind der Beginn eines neuen Zeitalters, in dem das Konzept von Strafe und Rache völlig aus unserem Bewußtsein verschwinden wird.«
Umschaltung/LitVid 21/1 B-Netz:
AXIS (Band 4)> Mein mobiler Explorer beginnt mit der geologischen Analyse eines verwitterten Felsauswurfs in der Nähe der Türme bei 70 Grad Nord 176 Grad West. Einer meiner seetüchtigen Explorer hat sich seit sechs Stunden nicht mehr gemeldet. Ein zweiter mobiler Explorer und ein dritter Ballonexplorer im kreisrunden Nordmeer entdecken gerade mit verdauter Nahrung verwandte Substanzen, die nicht vom allgegenwärtigen pflanzlichen Leben in den Meeren erzeugt worden zu sein scheinen. Es kann sein, daß es sich dabei um Spuren tierischen Stoffwechsels handelt; es können auch Spuren einer unbekannten Form freibeweglichen pflanzlichen Lebens sein.
Wo es Sünden gibt, dort gibt es Vielfalt.
- Origenes, IN EZECHIALEM HOMIUAE
32
Der Tag des großen Fluges, von LA nach Hispaniola in zwei Stunden. Morgengrauen.
Schonungsloses Taischen in ihrem Wohnzimmer. Warten auf die Konferenzschaltung und den Bestätigungsanruf von D Reeve bei Joint PD. Konzentration, Isolation der Angst. Echter Kummer wegen Ernest, als ob er gestorben wäre.
Während Mary sich streckte und die dynamische, friedvolle Spannung hielt, zog sie über ihr PD-Hausnetz das Stadtbild zu Rate. Sie sah LA im bunten Mosaik der Perez-Analyse ausgebreitet, jede Farbe der Zustand einer Gemeinde im sechsdimensionalen sozialen Raum, Farben, die sich täglich änderten. Zorniges Rot in den Zinken seit sechs Monaten; Unruhe wegen der Menschenjagden der Selektoren.
Mary beendete ihr Taischen und blieb nackt vor einem Ganzkörperspiegel innen an der Badezimmertür stehen. Ihre Haut glänzte
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