Königin der Engel
einen faserigen Rand. Der Ozean jenseits der Startbahnen lag strahlend blau unter einer mittäglichen Perlensonne, die durch einen hochliegenden Dunstschleier brannte. Mary nahm das alles mit einem sonderbaren Hunger in sich auf. Sie war geradezu versessen darauf, in Hispaniola zu landen und ihren Job zu tun; sie konnte es kaum erwarten, die nächsten paar Wochen hinter sich zu bringen.
Und von ihren Fehlern wegzukommen.
Im Terminal hatte ihr Reeves ziviler Bote eine Schachtel mit einem metallenen Kamm, einem Schminkset und einer Haarbürste gegeben. Der Griff der Bürste ließ sich mit einem Trick abschrauben und gab eine graue Paste frei, die sie als irgendeine Art von Nano identifizierte. Sie hatte die Schachtel in ihrem Gepäck verstaut und es eingecheckt. Der Bote hatte ihr auch eine Diskette mit Anweisungen gegeben. Jetzt holte sie ihre Tafel heraus und spielte sie ab. Als sie fertig war, löschte sie die Diskette, steckte die Tafel weg und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Wie Reeve gesagt hatte, nicht ganz legal. Aber unter den Umständen sehr interessant. Sie fragte sich, ob es funktionieren würde.
Das in der Rücklehne vor ihr angebrachte Fluglinien-Vid ging automatisch an, und sie schaltete es mit einem trägen Fingerschnippen aus. Schloß die Augen. Schaute auf die letzten zwei Tage zurück, auf die behagliche Körperlichkeit und Zuneigung ihrer Zeit mit Ernest, die mit einem Schisma geendet hatte. Pflicht vor Leben. Manchmal kam es ihr so vor, als ob es für sie nur die Pflicht gäbe; ihr Brennpunkt und ihr Daseinsgrund. Die Kräfte der Finsternis in Schach zu halten, damit andere ungestört leben und lieben konnten; nicht sie. Kein Selbstmitleid.
Die Turbinen der Triebwerke kletterten im Unterschallbereich zu einem hohen Pfeifen. Draußen war der Lärm problemlos auszuhalten, das Chaos der turbulenten Luft wurde durch Rohrleitungen reduziert, die den Luftstrom mit dreihundert Trimmbewegungen pro Sekunde regelten kontrollierten ablenkten und kanalisierten, wobei sie eine anrollende Geräuschwelle gegen die andere ausspielten. Nur in der Mitte der Auslaßöffnung würde das Getöse bis zur Unerträglichkeit ansteigen. Sie stellte sich vor, wie sie dort saß, unverwundbar, während die Serie der Feuerkegel auf sie einhämmerte, und in den Hochofen hineinschaute.
Melodram.
Die Pflicht einer PD bestand darin, das Getöse des menschlichen Hochofens zu dämpfen.
Sie lächelte, als das Flugzeug anrollte. Der Abgasstrahl wurde kurzfristig umgelenkt, damit die Maschine senkrecht abheben konnte, und die Triebwerke gaben ihr echtes, alles umhüllendes Gebrüll von sich, wie tausend rückwärts abgespielte Hurrikans, nur gedämpft von der hervorragend konstruierten Haut des grauen Hais. Sie rollten, stiegen hoch und kreuzten mit einem horizontalen Schwenk von der Startbahn weg über das blaue Wasser, wobei sie mit dem letzten Luftstrudel des vertikalen Schubs konzentrische Stürme auslösten; dann war der Scramjet schon sehr schnell, schnitt zügig durch die Luft und stieg im scharfen Fünfundvierzig-Grad-Winkel nach oben. Der Luftdruck in der Kabine fiel, und die Maschine ging in die Waagrechte. Leises Gewisper. Mary hätte ebensogut in einem Gleiter oder einem Segelflugzeug sitzen können.
Das Flugzeug war nicht voll. Nervosität auf dem Tourismusmarkt; die meisten Passagiere waren Touristen aus LA auf dem Weg ins stabile Puerto Rico. Sie wollten in Hispaniola in Senkrechtstartershuttles umsteigen. Die Leute vor ihr und hinter ihr schwatzten sorglos. Normale Menschen mit richtigem Leben und richtiger Liebe und ausgewogenen Pflichten, bei denen der innere Druck dem äußeren entsprach.
Mary schloß die Augen und klappte ihren Sitz zurück. Der Scramjet holperte über seine eigene Stoßwelle und glitt in dreizehntausend Metern Höhe noch leiser vor seinem eigenen Lärm dahin. Ein einzelner Steward beaufsichtigte zwei Arbeiter, die an einer Deckenschiene entlang mit Getränken durch die Maschine fuhren und Essen aus verborgenen Rohrleitungen im Rückgrat dieses komfortablen Hais ausgaben. Sie beschleunigten auf zwei Mach.
Mary konnte nicht schlafen. Sie schaltete das Rücklehnenvid ein und zippte durch die Kanäle, fand die Stadtnachrichten aus LA und wählte Geschichten aus den Combs, in der Hoffnung, die öffentliche Meinung in bezug auf Goldsmith aufzuschnappen. Verblüffend wenig Furore bei den kommerziellen Vids und den LitVids. Goldsmiths Morde waren nicht gerade ein alltägliches Ereignis, aber
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