Königin der Engel
um sich das Blut anzusehen, er würde Auspizien im verspritzten Leben dieser armen Küken finden, die ihn angebetet hatten, seiner Schüler. Um mit einem neuen, belebenden Entsetzen das Ausmaß seiner Freiheit zu erkennen, und wie gefährdet sie war. Wie lange würde er mit diesem Wissen noch leben können? Er kauerte noch eine weitere Stunde zwischen den Fleischruinen und beobachtete, wie das Blut dunkel und klebrig wurde. Er philosophierte über dessen sinnlosen Versuch, zu gerinnen, die böse Welt auszuschließen, wo doch der Tod in Wirklichkeit schon da war und die böse Welt bereits triumphiert hatte. So hatte die böse Welt auch in ihm triumphiert; er war genauso tot wie seine Schüler, konnte sich jedoch wundersamerweise bewegen, konnte denken und Fragen stellen; tot im Leben, frei. Er war von den Fesseln befreit, die seine vorherigen Jahre regen gesellschaftlichen Lebens ihm angelegt hatten; hatte sich von dem Ruf gelöst, der ihn erstickt hatte. Warum verließ er dann nicht die Wohnung und begann sofort damit, seinen lebendigen Tod zu verlängern? Je länger er blieb, desto größer die Gefahr, daß seine Freiheit entdeckt und eingeschränkt wurde.
Er verließ die Stätte des Gemetzels und ging in sein Arbeitszimmer, um die Reihen seiner dicht an dicht stehenden Werke durchzusehen, die Bücher, Stücke und Gedichte, die Bände mit Briefen, die nun alle überflüssig waren. Bevor er all das hinter sich lassen konnte, mußte er sein Manifest schreiben. Das konnte nur mit einem Tüller und mit Tinte geschehen, nicht mit den flüchtigen elektronischen Worten einer Tafel.
Das letzte Blatt Papier war voll. Richard stapelte die Blätter ordentlich auf einer Seite und holte die Tafel heraus, wobei er über die ironische Divergenz grinste. Er hielt für einen Moment inne, weil er merkte, wie sich in seinem Gedärm etwas tat, wartete darauf, daß wieder eine zeitweilige Stabilität einkehrte, schaltete dann die Tafel ein und fuhr fort.
»Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, was ich getan habe. Der Dichter muß dorthin gehen, wohin kein anderer geht, oder dorthin, wohin die Verachteten gehen. Dort bin ich jetzt, und die Freiheit ist atemberaubend. Ich kann tun und schreiben, was ich will; keine höhere Strafe, keine größere Schamde *PIEP*
FEHLERHAFTE SCHREIBWEISE Korrekturvorschlag: SCHANDE
»Verdammt.« Er schaltete das Korrekturprogramm aus.
kann mich treffen. Ich kann über Rassenhaß schreiben, über meinen eigenen Haß, kann ihn billigen oder mißbilligen; ich kann vorschlagen, daß die gesamte menschliche Rasse geopfert werden sollte, die Kinder zuerst; daß die Therapierten in ihren Betonmausoleen bei lebendigem Leibe verbrannt werden sollten. Ich kann rufen, daß die Selektoren recht hätten und daß die Zufügung größter Schmerzen der einzige Weg sei, manche Krankheiten dieser Gesellschaft zu kurieren, falls sie fortbestehen sollte; vielleicht sollte man Säuglinge unter die Höllenkrone setzen, um sie auf das Böse vorzubereiten, das sie unweigerlich tun werden. Aber auch das Schreiben ist für mich tot; ich kann tun, was immer ich will. Fangt mich bald. Ich werde nicht bleiben, um mich euren geistlosen Urteilen zu stellen. Ich muß mit anderen Dingen experimentieren.
Ich bin der einzige lebende Mensch, und zwar weil ich tot bin.«
Nachdem er dieses Manifest geschrieben hatte, pinnte er das Blatt mit dem Messer seines Vaters – der Waffe seiner Freiheit – an die Wand und ging an der Tür zur Stätte des Gemetzels vorbei, ohne hineinzuschauen. Er war sich jedoch erneut seiner Freiheit bewußt; sie war wie ein neuer Anzug oder überhaupt keine Kleidung.
Er verließ die Wohnung, den Comb, die Stadt. Draußen schien es, als könne er in die Wolken auffahren, ein vorbeiziehender Dunstschleier werden und auf sie alle herabregnen, auf daß er von ihnen aufgesogen werde und sich die ganze Menschheit entschlösse, sich selbst zu töten, um wahrhaftig frei zu sein; und dann würden vielleicht manche, vielleicht hundert oder tausend dieser ebenfalls Toten-Lebendigen, die Überlebenden dieser Zusammenballung von Wahrheit
Er hörte auf und stürzte ins Bad. Entleerte sich, reinigte sich, wie sich Goldsmith in seiner Vorstellung gereinigt gefühlt haben mochte; fragte sich, ob er diese Metapher – sich rein zu scheißen – benutzen konnte oder ob er sie bereits benutzt hatte; konnte sich nicht erinnern. Während er sich noch die Hose hochzog, kehrte er schon zur Tafel
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