Königin der Piraten
blickten, erneut auf Nelson. »Also gut, Sir«, sagte er feierlich. »Ich klettere mit Euch um die Wette. Aber würde es Euch etwas ausmachen, wenn wir dafür den Großmast nehmen?«
Nelson zog eine Augenbraue hoch. »Den Großmast, mein Junge? Warum denn das?«
»Er ist der höchste von den dreien, Sir. Wenn ich in die Takelage klettere, möchte ich den schlimmsten Feind zuerst besiegen. Dann kommen mir die anderen nicht mehr bedeutend vor.«
Der Gedanke gefiel Nelson außerordentlich. Lachend warf er den Kopf in den Nacken und schlug dem Jungen zwischen die spitzen, eckigen Schultern. »Also gut, Gray. Der Großmast soll es sein.« Er reichte sein Schwert einem Leutnant, schlang sich das Fernglas um und schritt zur Leeseite hinüber, wobei er das Schwanken des Schiffsdecks geschickt auffing. »Fertig, junger Mann?«
Von den Wanten an der Luvseite, die bei stürmischem Wind leichter zu erklimmen waren als die auf der Leeseite, die Nelson diskret ausgewählt hatte, sah der Knabe ihn an - bleich und ängstlich, aber fest entschlossen, sich der stolzen Uniform, die er trug, würdig zu erweisen. »Jawohl, Sir. Ich bin bereit.«
»Na dann, auf geht's!«
Nelson schwang sich auf das Dollbord und ergriff die geteerten Taue. Vom Deck unten erklang jubelnder Beifall für ihn und seinen entschlossenen Gegner, als er Griff um Griff hinaufkletterte. Dabei ließ er den Jungen, der in etwa zehn Meter Entfernung genau gegenüber an den Wanten emporklomm, nicht aus dem väterlichen Blick. Schon war die schöne Uniform des Knaben teerverschmiert, und sein widerspenstiges schwarzes Haar sträubte sich wie Flügel unter seinem Hut hervor. Als sie höher stiegen, wurde der Wind stärker und kälter; er drang durch Nelsons Uniform, sodass er fror bis ins Mark. Der Junge war immer noch auf gleicher Höhe. Nelson wurde langsamer, tat so, als ob seine Kräfte nachließen, denn er durfte keinesfalls vor seinem jungen Schützling oben ankommen. Hinter dem riesigen Großsegel verloren sie einander aus den Augen, bis sie über der Rah wieder auftauchten. Nelson rief dem Knaben aufmunternd etwas zu und warf einen Blick auf das Deck, das nun so tief unter ihnen lag, dass die nahezu senkrecht zusammenlaufenden Taue einander schon fast berührten. Wie nicht anders zu erwarten, sah er dort unten ein Meer zu ihnen emporgewandter Gesichter, über das die Schatten der Wolken zogen.
Er warf einen Blick zur Luvseite hinüber, hielt inne und tat, als wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Der Junge war schon fast oben - nur noch ein kleines Stück ...
Und dann ...
»Gewonnen!«, schrie der Knabe triumphierend, krabbelte zwischen den Auflangern hindurch und erschien auf der Großmars direkt über dem Kapitän. Nelson nahm ruhig den Hut ab und legte den Kopf in den Nacken. Er hatte Mühe, ein triumphierendes Grinsen zu unterdrücken. Der Junge glühte vor Stolz und atmete schwer - doch er hatte seine Angst überwunden und war ganz nach oben geklettert. Das war alles, was für Nelson zählte.
»Ja, du hast gewonnen, junger Mann!«, rief er lachend und zog sich hinauf, um sich neben seinen glücklichen Schützling zu setzen. »Meine Güte, ich bin nur zehn Jahre älter als du, aber neben dir fühle ich mich wie ein alter Mann! Bravo, mein Junge. Ich bin zutiefst beschämt.«
In Wirklichkeit war er hocherfreut und sehr stolz.
»Vielen Dank, Sir! Ihr hattet Recht, es ist gar nichts dabei.«
»Gewiss, mein Junge. Man kann jeden nur bemitleiden, der glaubt, es wäre gefährlich, es zu versuchen.«
Wenig später begab sich der Knabe wieder nach unten aufs Deck, wo ihn seine triumphierend grinsenden Kameraden empfingen. Sie klopften ihm auf den Rücken, knufften ihn in die Schulter und ließen ihn hochleben ...
Die Erinnerung verblasste, und der Admiral träumte von anderen Ereignissen, die ein paar Jahre später stattgefunden hatten ... Gray nicht mehr als großer, schlaksiger Fähnrich, sondern als schlanker, junger Mann, der vor Stolz glühte, weil er seine Leutnantsprüfung bestanden hatte ... Gray in der brandneuen Uniform eines Vollkapitäns, der vor Ehrgeiz und Stolz fast platzte, weil er Nelson eskortieren und zum ersten Mal selbst das Kommando führen durfte ... Gray, der wegen einer skandalösen Affäre mit der Gattin eines Admirals in Schwierigkeiten steckte und ein Duell ausfechten musste, nicht mit Pistolen, sondern mit Entermessern - ja, Entermessern! Aber Sir, Piraten hätten es genauso gemacht! ... Gray, der bei St. Vincent
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