Königin für neun Tage
glauben, dass sie tatsächlich die Tochter des gewitzten und intelligenten Henry war.
»Bei allem Respekt, Euer Gnaden, aber der Kaiser befürchtet, dass eine Revolte ausbrechen könnte, bei der sich die Protestanten in diesem Land verbünden und erneut versuchen, Jane Grey wieder zur Königin zu machen. Ihr könnt den Thronanspruch des Mädchens nicht leugnen! Sie ist eine Urenkelin von Henry VII.«
Nervös trommelten Marys Fingerspitzen auf die Holzlehnen. »Aber sie ist kaum mehr als ein Kind! Es war nicht Janes Schuld, was geschehen ist. Sie wurde von ihrem machtgierigen Schwiegervater als Marionette benutzt.«
»Trotzdem haben die Ketzer Hoffnung, solange die zentrale Figur am Leben ist«, beharrte der Botschafter.
Erregt sprang Mary auf, die Schmerzen waren vergessen. »Und was soll ich Eurer Meinung nach tun? Was schlagt Ihr vor, Exzellenz? Soll ich meine eigene Cousine auf den Richtblock schicken? Ein junges Mädchen, das kaum ihr Leben gelebt hat? Und was ist mit meiner Stiefschwester Elizabeth? Auch sie hat einen Anspruch auf die Krone, das hat sogar unser Vater testamentarisch geregelt. Wer sagt uns, dass nicht auch Elizabeth dem reformierten Glauben zugeneigt ist?«
Bedächtig legte der Botschafter die Fingerspitzen aufeinander und betrachtete ausgiebig seine ovalen Fingernägel, bevor er antwortete: »Prinzessin Elizabeth stellt keine akute Gefahr dar. Ihr solltet sie trotzdem nicht aus den Augen lassen, am besten holt Ihr sie zu Euch nach London. Auch die beste Bewachung in Hatfield kann mangelhaft sein.«
»Ihr meint wohl, ich soll auch sie in den Tower werfen lassen?«, fragte die Königin.
Der Botschafter hob die Schultern. »Das steht in Eurer Macht, Hoheit. Aber ich muss Euch leider von meinem Herrn, dem Kaiser, ausrichten, dass Prinz Philipp erst dann ein Schiff nach England besteigen wird, wenn Jane Grey und ihr ganzes verräterisches Gefolge tot sind.«
Kraftlos sank Mary in den Thronsessel zurück. Mit einer Handbewegung gebot sie dem Botschafter, sie allein zu lassen. Dann stützte sie ihr Gesicht in die Hände und dachte nach. Elizabeth, Jane und deren Eltern waren die einzigen Verwandten, die sie noch hatte. Mary hob den Kopf und starrte auf das Porträt des jungen Prinzen. Auf die Entfernung konnte sie nur mehr Umrisse erkennen, dennoch meinte sie, Philipp würde ihr aufmunternd zunicken und sie liebevoll ansehen. Mary wurde es warm ums Herz. Warum dachte sie, sie hätte keine Familie mehr? Durch die Heirat mit Philipp würde sie eine neue hinzubekommen. Und einen Ehemann, der sie zärtlich liebte und ihr helfen würde, die schwere Last, das Land zu regieren, zu tragen. Das würde sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen – koste es, was es wolle!
16. KAPITEL
Inverleithen, Schottland, März 1554
Auch nach mehreren Monaten vermochte Antonia den Laird von Inverleithen nicht richtig einzuschätzen. Laurel Mercat war ein Mann, der wusste, was er wollte. Er herrschte über sein Land und seine Pächter streng, aber gerecht. Das Wohl der Menschen lag ihm am Herzen. Der Winter war schneereich und kalt gewesen, aber in den Speichern von Inverleithen war genügend Korn eingelagert worden, so dass niemand Hunger leiden musste. Auch gab es große Fässer voll mit gepökeltem Fleisch und Kisten mit Äpfeln, die regelmäßig an die Pächter verteilt wurden. Die Leute sprachen von dem Laird mit Respekt und Demut, schließlich erhielten sie von ihm Land und Nahrung. Trotzdem traute Antonia ihm nicht. Sie meinte in seinem Blick etwas Verschlagenes zu sehen und fühlte sich ständig von ihm beobachtet. Ebenso wie er Norman nicht aus den Augen ließ. Der Laird interessierte sich sehr für ihre
Ehe
und ließ keine Gelegenheit verstreichen, um zu betonen, dass er sich Enkelkinder wünschte.
Dennoch hatte es Antonia gewagt, bei dem Laird, den sie inzwischen
Onkel
nennen durfte, durchzusetzen, ein eigenes Zimmer zu bewohnen.
»Norman schläft sehr unruhig, zudem schnarcht er, dass man meint, er würde den gesamten New Forest in einer Nacht umsägen. Ich mache manchmal kein Auge zu«, hatte sie ihm gesagt.
Laurel Mercat hatte ihre blasse Haut und die Ringe unter den Augen gesehen und daraus geschlossen, dass Antonia wirklich keine Ruhe fand.
»Aber ich möchte so schnell wie möglich einen Großneffen in den Armen halten«, hatte er geantwortet. »Ich hoffe, du und Norman, ihr werdet euren Pflichten nachkommen, auch wenn ihr in zwei getrennten Zimmern schlaft. Denn während Norman damit beschäftigt ist, einen
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