Königin für neun Tage
lebte, ebenso wie die gesamte Umgebung, vom Wollhandel und zählte mit zu den wohlhabendsten Gegenden in ganz England.
Nach den Aufregungen der letzten Monate empfand Antonia die ländliche Abgeschiedenheit Sudeleys als wohltuend und entspannend. Sie hatte den Mut aufgebracht und Lady Catherine darum gebeten, regelmäßig ausreiten zu dürfen. Nachdem Lord Seymour sie auf ihren Umgang mit den Pferden und ihre Reitkünste geprüft hatte, wurde es ihr erlaubt. Allerdings durfte Antonia niemals allein durch die liebliche Landschaft der Cotwolds reiten, sondern musste einen Reitknecht mitnehmen. Leider fürchtete sich Jane Grey immer noch vor Pferden und hatte bisher keinen Versuch unternommen, eines dieser Tiere zu besteigen. Das tat Antonias Freude, wenn sie ihr Ross über die Felder und Wiesen traben ließ, indes keinen Abbruch. Sie und Jane hatten sich in der letzten Zeit enger zusammengeschlossen. Antonia lächelte, wenn sie daran dachte, wie das schüchterne, verschlossene Mädchen bewundernd zu ihr aufsah und bemüht war, ihr in vielem nachzueifern. Die meiste Zeit verbrachten sie zusammen, denn Lady Catherine musste wegen ihrer Schwangerschaft fast immer ruhen, und es gab nur selten gemeinsame Abendessen. Für die beiden Mädchen war ein neuer Lehrer aus der Umgebung eingestellt worden. Er war zwar nicht so gelehrt wie Roger Ascham, verstand aber anschaulich und unterhaltsam zu unterrichten.
»Ich wünschte, wir würden mehr griechische Übersetzungen machen«, seufzte Jane, nachdem sie binnen kurzer Zeit die ihr aufgetragenen Aufgaben in Latein erledigt hatte.
»Nun, ich habe schon mit dieser Sprache genügend zu tun«, entgegnete Antonia und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Buch. »Leider bin ich nicht so ein Sprachentalent wie du.«
Jane schlug ihr Buch zu und rückte näher an Antonia heran. Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hören konnte: »Du hast so viele andere Talente, von denen ich nicht einmal zu träumen wage. Erzähl mir doch noch mal von der Zeit, als du wie ein Junge mit dem Schwert gekämpft hast!«
Antonia tat ihr den Gefallen. Immer und immer wieder wollte Jane die Geschichte ihrer seltsamen Kindheit hören. Je öfter Antonia darüber sprach, je mehr Kleinigkeiten ihr einfielen, desto mehr verwunderte es sie, dass es gelungen war, ihre wahre Identität so lange zu verheimlichen. Noch immer war sie voller Sorge um ihre Mutter und Ellen, ebenso fürchtete sie, Lord Fenton könnte sich eines Tages wieder darauf besinnen, eine Tochter zu haben und sie zu sich holen.
An einem Morgen glaube Antonia an Halluzinationen zu leiden. Sie war schon früh erwacht, noch hing der Tau wie Spinnweben in den Büschen und Sträuchern. Als Antonia einen Spaziergang machte, meinte sie, Elizabeth zu sehen. Das Mädchen kniete vor einem Beet im Kräutergarten, ihr rotes Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Antonia erschrak, als sie ihr Profil sah, dachte dann aber, dass Elizabeth niemals solch einfache Kleider getragen hätte. Das Mädchen hatte sie bemerkt und stand rasch auf. Sie klopfte sich die Erde von den Knien, neben ihr stand ein Korb mit frischen Kräutern.
»Mistress …« Sie senkte den Kopf, als Antonia verwundert näher kam. Erst als sie vor dem Mädchen stand, erkannte sie, dass dessen Haar intensiver rot leuchtete und die Augen grüner waren als bei Elizabeth Tudor. Außerdem war sie deutlich jünger als die Prinzessin, jedoch für Alter bereits gut entwickelt.
»Wer bist du?«, fragte Antonia interessiert.
»Mein Name ist Margret Cardingham. Ich arbeite in der Küche, Mistress«, antwortete sie mit fester, etwas rauchiger Stimme.
»So, so …« Verwirrt fasste sich Antonia an die Stirn. Die Magd hatte wirklich eine verblüffende Ähnlichkeit mit Elizabeth. Sie überlegte, ob Lady Catherine das Mädchen schon zu Gesicht bekommen hatte. Obwohl Margret nichts dafür konnte, würde Catherine alles andere als erfreut sein, durch ein ähnlich aussehendes Mädchen an ihre Stieftochter erinnert zu werden.
Antonia ließ die Magd stehen und kehrte in ihre Räume zurück, wo ein Diener bereits das Frühstück für sie und Jane serviert hatte. Während sie aß, plauderte sie mit Jane über Belanglosigkeiten und hatte kurze Zeit später das rothaarige Mädchen vergessen.
Am 30. August, einem heißen und stickigen Spätsommertag, setzten bei Catherine Seymour die Wehen ein. Das Kind wurde geboren. Es war ein Mädchen und wurde nach der ältesten
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