Königin für neun Tage
Antonia wohl kaum stören würde.
8. KAPITEL
Bradgate Park, Leicestershire, Oktober 1552
So unauffällig wie möglich versuchte Jane Grey, ihre müden und schmerzenden Glieder zu strecken und eine bequemere Sitzposition zu finden.
»Sitz still und halte dich gerade, Jane! Was soll das dauernde Gezappel?«, tadelte sie ihre Mutter, die Herzogin von Suffolk.
Der stolzen Frau mit den unbeweglichen Gesichtszügen schien die stundenlange Fahrt über unebene und aufgeweichte Straßen nichts auszumachen. Mit erhobenem Haupt saß sie in den Polstern der Kutsche. Jane schloss die Augen und bewegte ihre Zehen, die seit einiger Zeit eingeschlafen waren. Nur gut, dass sie ihr Ziel, Bradgate Park, in Kürze erreichen würden. Um sich von dem stetigen Schaukeln abzulenken, konzentrierte Jane ihre Gedanken auf die letzten Wochen, die sie in Hampton Court verbracht hatte. Edward hatte die Tradition seines Vaters, den frühen Herbst in dem Palast an der Themse zu verbringen, fortgesetzt. Obwohl sich Jane in Gesellschaft der Höflinge und ihrer aufgeblasenen und eleganten Frauen nicht wohl fühlte, waren die wenigen Stunden, die sie an der Seite des Königs verbringen durfte, für sie eine Bereicherung gewesen. So bedauerte sie es ein wenig, als der Hof nach Whitehall umsiedelte und sie und ihre Mutter nach Hause aufbrachen, während ihr Vater in der Stadt geblieben war.
Endlich hielt die Kutsche vor dem prächtigen Portal von Bradgate Park. Livrierte Diener eilten herbei, um den beiden Damen beim Aussteigen zu helfen. Kaum hatte Jane ihre Füße auf den Kies gesetzt, schweifte ihr Blick zu der geschwungenen Freitreppe. Als sie die große, schlanke Gestalt mit dem ovalen Gesicht und den dunklen Augen erblickte, begannen Janes Augen zu leuchten. Die junge Frau lächelte, und sie eilte auf Jane zu.
»Antonia! Wie schön, dich endlich wieder zu sehen! Es war furchtbar langweilig ohne dich«, rief Jane und umarmte die Freundin kurz, aber herzlich. Da Lady Frances bereits im Haus verschwunden war, hinderte Jane niemand daran, sich bei Antonia unterzuhaken und Seite an Seite mit ihr in ihre Räume zu gehen.
»Beim nächsten Mal werde ich es nicht erlauben, dass du uns nicht begleitest«, sagte Jane bestimmt. »Wir sind zu den Weihnachtsfeierlichkeiten nach Whitehall eingeladen. Ich werde aber nur reisen, wenn du mitkommst!«
Antonia lächelte verständnisvoll. In den letzten Jahren war Jane erwachsen geworden und verfügte über einen starken Willen. Als ihre Eltern nicht erlaubten, dass Antonia sie nach Hampton Court begleitete, hatte sie heftig protestiert. Sie und Antonia waren sich beinahe wie Schwestern zugetan, doch Antonia hatte ihr zugeredet, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie selbst verspürte keine Lust, nach Hampton zu reisen, denn zu viele Erinnerungen waren für sie mit dem Palast verbunden. Antonia hatte in Bradgate Park Ruhe und Ausgeglichenheit gefunden und wollte keine alten Wunden aufreißen.
In Janes Zimmer half Antonia ihr aus dem Reisekleid und legte die Samthaube zur Seite. Im Morgenrock setzte sich Jane vor den Spiegel und genoss es, ihr langes, volles Haar gebürstet zu bekommen. Aus dem hübschen Kind war eine schöne junge Frau geworden: Rotgoldenes Haar umrahmte ein herzförmiges Gesicht mit einem vollen, roten Mund. In ihren grauen Augen lag jedoch immer noch ein Ausdruck, der Antonia an ein verschrecktes Reh denken ließ. Zu Janes Kummer rankten sich rund um ihre gerade Nase kleine Sommersprossen, die nicht einmal nach regelmäßigen Umschlägen mit Sauermilch verschwinden wollten. Antonia fand sie allerdings sehr attraktiv, gaben sie Janes Gesicht doch eine besondere Note.
»Hast du meinen Vater gesehen?«, fragte Antonia, als sie merkte, wie die Anspannung der Reise von Jane abfiel.
»Es scheint ihm gut zu gehen, denn er wird von Jahr zu Jahr fülliger. Sein Haar und sein Bart sind vollständig ergraut, aber er streckt seine dicken Finger immer noch nach allem aus, was ihm zum Vorteil gereichen könnte. Lord Fenton ist stets in der Gesellschaft dieses Emporkömmlings Dudley zu sehen, den auch mein Vater ins Herz geschlossen zu haben scheint.«
Antonia kicherte angesichts dieser ehrlichen Worte. Seit dem Sturz des Lordprotektors Edward Seymour vor zwei Jahren war John Dudley der erste Mann in England. Im letzten Jahr war er zum Herzog von Northumberland ernannt worden. Damit war John Dudley der erste Mann in der Geschichte Englands, der den Titel eines Herzogs erhalten hatte, ohne königliches Blut in
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