Königin für neun Tage
getröstet. Seit dem Tanz mit Edward am Weihnachtstag war ihr bewusst geworden, wie sehr ihr Herz für den Jugendfreund schlug. Es war mehr als die Aussicht, Königin von England zu sein, die sie sich um Edward sorgen ließ. Manchmal lag sie in der Nacht wach und träumte davon, wie es wohl wäre, wenn Edward Tudor nicht der König, sondern ein ganz normaler Landedelmann wäre. Dann würden sie irgendwo in einem netten kleinen Haus leben, fernab von höfischem Klatsch und Intrigen. Es würde keinen John Dudley geben, der jeden Schritt Edwards überwachte. Seit dem Tag, an dem Jane ihre tiefe Liebe entdeckt hatte, beschlich sie immer wieder eine unerklärliche Angst vor der Zukunft. Jane konnte dieses Gefühl nicht definieren, nicht in Worte fassen. In ihrem Alter hatte sie wahrlich keinen Grund, sich über Sterben und Tod Gedanken zu machen, wenngleich es auch viele schreckliche Krankheiten gab, von denen sie bisher verschont geblieben war. Nein, das Gefühl, das Jane manchmal regelrecht die Luft zum Atmen abschnürte, war ein anderes. Jane fühlte sich bedroht, konnte aber nicht sagen, durch was oder durch wen. Sie hoffte nur, dass sie in Chelsea die Ruhe und Zeit haben würde, ihre Studien wieder aufzunehmen, die sie in den letzten drei Wochen durch die Feierlichkeiten sträflich hatte vernachlässigen müssen.
Jane richtete ihr Haar und setzte die graue Samthaube auf, hängte sich ihren Umhang um und wandte sich zur Tür. »Nun, dann wollen wir mal sehen, was das neue Jahr für Überraschungen für uns bereithält!«
Jane und Antonia hatten sich in Chelsea sehr schnell wieder eingewöhnt und tatsächlich ihre alten Zimmer beziehen können. Äußerlich hatte sich das Haus nicht verändert, im Inneren war es jedoch von John Dudley umgestaltet worden. Überall stieß Jane auf neue Möbel und Wandbehänge. Aus beinahe allen Räumen waren die Binsen verschwunden, stattdessen bedeckten diese neuartigen gewebten Stoffe aus dem Orient die Dielenböden. Man nannte die empfindlichen Kostbarkeiten Teppiche. Um diese sauber zu halten und von Zeit zu Zeit zu reinigen, benötigte es ein wesentlich größeres Aufgebot an Dienstboten, als Lady Catherine beschäftigt hatte. Auch hatte John Dudley streng untersagt, Abfälle und Essensreste einfach auf den Fußboden zu werfen, und die Männer durften nicht mehr ausspucken. Dafür waren kleine silberne Schalen besorgt worden, die in allen Räumen standen.
Kichernd nahm Jane eine der Schalen zur Hand. »Ich würde zu gerne mal sehen, wie die Männer jetzt da hinein zielen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie immer treffen!«
Das Haus, unter Lady Catherine heimelig und gemütlich, war zu einem eleganten Palast geworden. Die Fenster waren dicht, die Kamine in den Zimmern groß, so dass seine Bewohner nicht frieren mussten.
An einem Nachmittag schritten Jane und Antonia gerade die Treppe in die große Halle hinab, als die Tür aufging und eine Gruppe von Männern herein polterte. Sie brachten einen Schwall eiskalter Luft und Schnee mit herein, der auf ihren Pelzumhängen schmolz und auf den Boden tropfte. In weiser Voraussicht war in der Halle auf das Auslegen von Teppichen verzichtet worden, so dass die nassen Pfützen auf dem Steinboden keinen Schaden anrichteten.
Bei den Ankömmlingen handelte es sich um Henry Grey und ein paar seiner Freunde, mit denen er auf der Jagd gewesen war. Antonias Hand krampfte sich um das Treppengeländer, als sie in der Gruppe Norman Powderham erkannte. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Zwei Jahre? Nein, es waren bereits drei.
»Diener, bringt warmen Wein, Fleisch und Brot!«, befahl Lord Suffolk, und die Männer verteilten sich an dem großen Eichentisch in der Mitte der Halle. Er nickte Jane kurz zu, einige der Männer begrüßten die Tochter des Hauses freundlich.
Auch Norman Powderham verbeugte sich, ohne Antonia, die direkt daneben stand, zu beachten. »Lady Jane, ich wünsche Euch ein glückliches und gesundes neues Jahr. Leider hielten mich Familienangelegenheiten davon ab, das Weihnachtsfest am Hof zu verbringen.«
»Das Gleiche wünsche ich Euch«, antwortete Jane hoheitsvoll. »Ich hoffe, Eurer Familie geht es gut und es gab keine schwer wiegenden Probleme?«
»Nein, Mylady, einer meiner Brüder hatte sich bei einer gewagten Klettertour das Bein gebrochen. Jetzt geht es ihm wieder besser, und die Ärzte sind sicher, dass er bald wieder reiten kann.« Normans Blick wanderte über Janes Gestalt. »Es scheint für mich nur eine kurze
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