Königsallee: Roman (German Edition)
Lindemann-Archiv, wollte sie partout auf dem Bahnsteig begrüßen.»
«Wichtigtuerei.»
«Eine Archivbesichtigung steht auf dem Programm.»
Die Herren in Schlips und Anzug traten vor die Tabaktheke, wo Fräulein Gerda den Fülligeren der beiden Wohlgenährten mit den gewünschten Zigarillos versorgte.
«Mein Sohn verschlingt die Bücher von Hermann Hesse. Ist manchmal ganz wirr davon. Will auswandern und als Steppenwolf durch die Welt streifen. Flausen. Er soll froh sein, daß er hier ein Dach über dem Kopf hat. Literatur richtet viel Unheil an, Feilhecht. Deutsche Männer, wir sind genug herumgekommen. Paris, El Alamein, Krim, Kurland. Der Nachwuchs sollte sich hierzulande beweisen. Wie alt so Dichter werden. Schon meine Mutter hat Hesse erlebt. Ein Beschwörer des Friedens und der Selbstfindung. Nun ja, sie ging dann doch im Haushalt auf.»
«Warum Hermann Hesse, Giesewind?» fragte der andere verblüfft.
«Wieso nicht?», sein Begleiter zündete sich seinen Zigarillo an, «kommt doch aus der Schweiz.»
«Wir erwarten Thomas Mann.»
«Ah. – Ja, was? – Natürlich. Sie wissen, Herr Kollege, die vielen Obliegenheiten. Die Gaswerke müssen endlich komplett in kommunale Hand. Und könnten mit den Neusser Betrieben vereinigt werden. Mann. Gewiß», die beiden Stadträte, deren Gesichter aus Zeitungen geläufig waren, wandten sich von der Boutique ab, «den liest mein Sohn nicht. Ich sollte, soweit ich es einschätzen kann, auch dankbar sein. Zu schnörkelig. Zu damenhaft. Bis zum Feuersturm hatten wir selbst eine ansehnliche Bibliothek zu Hause. Damals wurde abends gelesen. Der Cousin vom Peter, also mein Neffe Kasimir, der hat sich nach dem Tod in Venedig regelrecht verwandelt. Sein Zimmer nannte er: Grand Hotel Des Bains. Von dort starrte er elegisch in den Park. Er wollte nur noch mit Tischtuch und Silberbesteck essen. Er begann, merkwürdige Gedichte auch an Peter zu schreiben: O sehnsuchtsvoller Abend, wenn der Jugend Glanz die Nacht erhellt. Verströmen und Vergehen, vorm Nichts noch ein Gefühl, das edler Brust gefällt. O Lockruf holden Scheins, Pedro, mein Tröster sei …»
«Immerhin doch eine schöne Mühe in der Sprache. Wo findet man dergleichen noch?»
«Habe ich bei ihm konfisziert. Macht lebensuntauglich. Kasimir will jetzt Schriftsteller, Komponist oder notfalls Chefsteward auf einem Luxusliner werden, jedenfalls etwas Feines.»
«Und Ihr Sohn?»
«Thyssen. Habe schon alles eingefädelt. Die Begrüßung nimmt der Kulturreferent vor?»
«Vermutlich. Thomas Mann bleibt aber, das weiß man, der bedeutendste Lehrer im Stilistischen. Wohl nie ein unpassendes Wort. Der hat noch Bildung geschlürft wie die Germanen Met. Der Mensch ist offenbar die leibhaftige Lust an der Bildung. Wer die Sprache hat, Giesewind, der hat auch die Gedanken. Und Gedanken brauchen wir. Sonst blöken sich alle irgendwann nur noch stumpfsinnig an.»
«Sie sind goldrichtig im Schulressort, Feilhecht. Ich will nicht sagen, daß Kasimir verweichlicht ist. Nach der Lektüre vom Zauberberg , mein Bruder hat’s mir erzählt, ist er nachts nur im Hemd durch einen Schneesturm gelaufen und soll gerufen haben: Nehmt mich, Elemente, hier ist das Toben der Erneuerung! Belehrt mich, Meister, ob ich glauben oder ob auf weltliche Manneskraft ich bauen soll … o Russin, einen Kuß von dir. Der Herr behütet mich und doch bin ich allein. Flocken, Netzung meiner Haut. Im Wirbel wirbelnd ist Verwirbeln , oder so ungefähr. Doch fasse dich im Ungestümen. Ein Mann hält Forderungen stand. »
«Muß man sich reindenken. Wer hat das aufgeschnappt?»
«Eine Nachbarin, die im Schnee ihren Hausschlüssel suchte.»
«Von Ihrem Neffen könnte man noch hören.»
«Hoffentlich nicht als Steward, der in den Ozean springt.» Über Literarisches, wenn nicht gar Poetisches hatten sich die beiden Mitglieder des Stadtrats, die sich im Sitzungssaal gegenüber saßen, bisher nie ausgelassen. Aber dieser Morgen durfte dazu verleiten. «Also, nicht Hesse.» Richard Giesewind, dem die Versorgungsbetriebe unterstanden, und Dr. Feilhecht von den schulischen Angelegenheiten wanderten auf und ab. Geöffnete Aschekugeln standen für den zivilisierten Hochgenuß mehrfach bereit. Hinter der Litfaßsäule hielt Fräulein Anita ihren Besenstiel umfaßt; sie hätte diesen Neffen Kasimir gerne einmal zu Gesicht bekommen … Was es alles so gab, junge Leute im Hemd, die nachts ins Unwetter schrien, es war ja gut, daß nicht alles so einförmig war und dass
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