Königsallee: Roman (German Edition)
sich nicht alle nach dem reglosen Spähen aus einem Amsterdamer Erkerfenster sehnten. Welche Russin hatte solcher Bursche im Sinn gehabt? Fräulein Anita und auch Fräulein Gerda an der Tabakluke schraken zusammen. Die stets schwarzgekleidete Dame aus dem Beletagezimmer, eine Lateinamerikanerin, die zu irgendeinem Kunsthandel aus der Ferne eingetroffen war, pfefferte die Tür des Frühstücksaals mit einem nonchalanten Schwung zu, daß das Glas erklirrte. Zu dieser Unart wollten die Grazie, mit der sie über Stufen glitt, und die regen Katzenaugen, denen Friedemann schier verfallen war, kaum passen. Kein Vergleich mit der kanadischen Geigerin, die schon vor dem Alarm und ihrem Sturz mit den Armen wild gerudert hatte. Nun, der Norden Amerikas galt nicht als die Wiege der Anmut.
«Übrigens, Giesewind, allzu schnörkelig und damenhaft war es vom Dichter nicht, als er allwöchentlich über die BBC die Zertrümmerung der deutschen Städte, das Zerschlagen der Wehrmacht und die Auslöschung des, wie er formulierte, Ungeheuers, des krankhaftesten Feldherrn aller Zeiten und blutigsten Popanzes der Geschichte forderte.»
«Sie haben Feindsender gehört?»
«Wollen Sie mich denunzieren?» Die Stadträte lachten, jedoch bemüht.
«Deserteur, Wehrkraftzersetzer, Anschwärzer aus dem Exil», rutschte es dem Leiter der Versorgungsbetriebe heraus, was er rasch abmilderte: «Es war leicht, aus dem Warmen heraus den Untergang beschleunigen zu wollen. Mit Worten.»
Dr. Feilhechts Gesicht hellte sich für einen Sekundenbruchteil auf. Ein bedeutender Gedanke schien ihn durchzuckt zu haben, den er spürbar verblüfft kundtat: «Thomas Mann, ja, Thomas Mann hat Hitler besiegt.»
Giesewind stand reglos im Zigarilloqualm. Der Kollege präzisierte: «Wer am längsten durchhält, der siegt. Und wer lebt? Wer ist tot? Der Vertreiber oder der Vertriebene? Und nicht nur das.»
«Ich muß um zwölf fort. Gas.»
Richard Giesewind und Konrad Feilhecht erblickten bekannten Zulauf. Dr. von Seeken humpelte in die Halle: «Guten Morgen, meine Herren. Ein halboffizieller Empfang, was ist das eigentlich? Mit Krawatte, aber schlecht geknotet?» Der Stadtkämmerer war im Ratsgremium auch für Pointen zuständig. Bisweilen sank sein Witz zu puren Albernheiten herab, aber sogar die lockerten manche Etatdebatte auf. Womöglich würde man bei von Seeken in späteren Jahren den Übergang von witzigen Eingebungen zu irrem Altersgefasel kaum feststellen können, da der Stadtkämmerer schon heutzutage erklärte: Ich schließe meine Kasse ab und renn’ mit ihr davon . Neben den staubtrockenen Zahlenkolonnen, die er ohne Fehl vortrug, verwiesen die Narreteien natürlich auf eine höhere Intelligenz, die ihren Spielraum brauchte und flirren wollte. Populär wurde von Seeken mit seinen Aperçus in der Stadt natürlich nicht, denn das gemeine Wahlvolk verlangte Schlichtheit auf Augenhöhe und fühlte sich durch eine Bemerkung wie Neue Turnhallen? Hab’ keinen Heller im Säckel. Doch natürlich gilt erst ein Salto ohne Netz als Meisterleistung schnell überfordert. Im Privaten und voller Verve ventilierte Karel von Seeken sein kreatives Potential beim Orgelspiel. Der Adlige aus dem Sudetenland war ein gerngehörter Virtuose, der Gottesdienste in Sankt Maximilian untermalte. Hinsichtlich seines Spiels verglich er sich gerne, wenn auch nicht in der Kunstfertigkeit, sondern im Temperament, mit dem genialisch ungestümen Bach-Sohn Friedemann: Wenn das hehre Messegeklimper vorbei ist, dann steig’ ich in die Pedale und schleudere der Herde eine Toccata con fuoco nach, daß es durch die ganze Woche donnert . – Für geraume Zeit mußte die Kirchengemeinde auf diese Improvisation jedoch verzichten. Seeken hatte den banalsten Badewannenunfall erlitten, war ausgerutscht – wobei jeder Verletzte dankbar blieb, nicht mit dem Kopf aufgeschlagen zu sein –, und begrüßte jetzt mit umgipstem Bein die Kollegen: «Für eine Pause in einem Thomas-Mannschen Sanatorium reicht es bei mir nicht. Ich habe keine Schwindsucht und kein verdächtig pochendes blaues Äderchen an der Schläfe. Nach der nächsten Haushaltsverabschiedung vielleicht schon. Kommt der Oberbürgermeister auch?»
«Der Kultusminister wird vor der Lesung im Schumannsaal die Begrüßung seitens des Landes vornehmen.» Die Auskunft Dr. Feilhechts klärte hinsichtlich des bevorstehenden halboffiziellen Empfangs wenig.
«Wollen die Herren speisen oder Zimmer?»
«Wir sind das Stadtkomitee», wurde dem Ober
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