Königsallee: Roman (German Edition)
Schleim; er rasselt und knarrt von oben bis unten, ein Knabe mit so ungemein fettem Blut, den jeden Augenblick der Schlag treffen könnte.»
«Große Güte, das hat Ihr Vater über Sie geschrieben?»
«War sehr erfolgreich. Für ihn. Die Menschen lieben doch das Unglückselige, das nicht sie selbst meint. Die Memme wird’s ihm diktiert haben, wenn es auch nur in seiner Schrift vorliegt. Der eine Satz über Klaus entsprang einem anderen Beweggrund: der schöne, besondere Knabe, der Blühende. – Das Schöne, Edle, Hoffnungsvolle – wobei mein Vater natürlich auch eine mögliche große Künstlerschaft meines Bruders klandestin fürchtete – genügte fürs Lebensambiente offenbar nicht; es braucht einen Misthaufen. Und der bin ich. Erika wirbelte als Frau in anderen Regionen, unterhaltsam, aufmüpfig à part, wie man so sagt.»
Die Kellnerin, die man Frau Inge nennen wollte, trat neben den Hinzugekommenen. «Ein Bier. – Nein. – Eine Schorle. – Moment, besser einen samtigen Roten. Aber der macht müde. – Einen leichten Roten. Besser weiß. Führen Sie Sylvaner?» «Führen wir.» «Wenn Sie Sylvaner haben, gibt es vielleicht auch Grauburgunder. Ist nicht so lieblich.»
«Niestein», meldete sich von der Seite der Asiate, auf den sich flüchtig die Aufmerksamkeit konzentrierte.
«Niersteiner?» fragte der Wankelmütige, den niemand geladen hatte. Frau Inge notierte umstandslos.
«Eine Flasche. Zwei, falls die Herren mittrinken wollen.» Die Vorratskeller im Hause Mann mußten üppig bestückt sein.
«Da sitze ich. Und das ist mir hochnotpeinlich.» Angesichts des Schweißfilms auf der Stirn, den unruhigen Fingern, wirkte die Auskunft glaubhaft. «Ich habe gezögert, ob ich Ihnen folgen soll wie ein Straßendieb. Ich konnte Sie gut im Auge behalten.» Das schien Anwars Verdienst zu sein. «Ehe Sie sich mit meiner Schwester verbünden, muß ich mit Ihnen reden. Ich habe auch lange geschwankt, ob ich überhaupt anreisen soll. Am Bodensee, in meinem kleinen Refugium im Gasthof Zur Krone, ist es ja recht behaglich, ich habe Ruhe zur Arbeit und Wanderwege vor der Tür. In Zürich besitze ich nur ein kleines Appartement. Die Hälfte des Jahres unterrichte ich ohnehin noch in Kalifornien. Clarement College.» Man staunte, da schien trotz des bösen Geistes doch etwas leicht aufwärtsgegangen zu sein. «Aber die Studentenschaft wird immer dümmer, und ich sollte mich entscheiden, ob ich Amerikaner werden oder wieder Europäer sein will. Grausam, all solche Entscheidungen. In den USA wird jeder verdächtigt, alle enteignen und den Kommunismus einführen zu wollen, der auch nur einmal den amerikanischen Imperialismus, zum Beispiel in Korea, kritisch bedenkt. Aber Europa: zertrümmert, zerrissen, in den Händen Moskaus und Washingtons, eng, in der Seele zermürbt von zu viel Kampf und Haß. Da darf man doch schwanken, ob unsereins am Pazifik oder am Bodensee bleiben soll. Schwanken, zögern, nicht wissen, was für einen selbst, für die Menschen das Richtige ist … vielleicht ist das überhaupt die modernste Haltung.» Der Sohn von Thomas Mann schien mit dieser Erkenntnis für einen Moment zu triumphieren und saß geradezu imperial in den Rauchschwaden. «Der Zauberer und der Zauderer. Genial, vielleicht entwickelt sich meine Genialität erst noch. Wenn ich freie Bahn habe.»
Ursprung und Sinn des Feuerwerks, das vor ihnen abgebrannt wurde, erschloß sich dem asiatischen Paar nicht.
«Ich habe etwas für Sie dabei und brauche Ihre Hilfe.»
«Zum Wohl», wünschte Klaus Heuser konziliant, man stieß mit Bier und Schoppen an, und Inge konnte Gläser und die zweite Flasche bringen. Anwar saß in Trance da, doch dank seiner Herkunft war ihm dieser Monsunzustand nicht fremd. Klaus hatte, genaugenommen, auch nichts Entscheidendes vor. Die Idee, daß jedwedes Schwanken zwischen Alternativen das Modernste, up to date war, gefiel ihm, leuchtete ihm ein. Ehedem hatte der Mensch stets exakt wissen sollen, wozu es ihn drängte, worin das Heil liege, wie er denken und sich verhalten müsse; nun, gemäß der Golo Mannschen These, durfte man gespalten, unsicher, mit sich und der Mitwelt quasi liberal bleiben, konnte man erst einmal abwarten und brauchte nicht rechthaberisch aufzutreten – das war interessant. Das Imperium der Zögerlichen, nicht faszinierend, doch ohne größeres Übel. Wieso sollte der Mensch immer etwas Striktes, Harsches aussenden, wenn schon der Empfang aller Impressionen vollauf beschäftigen konnte!
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