Koenigsblut - Die Akasha-Chronik
erschrocken hatten, als ihr Frühstück flüchten wollte. Dulcia lachte fröhlich, als sie meine Miene sah.
„Das sind Quitschen. Früchte mit Fluchtmechanismus in der Schale. Du musst sie nur am Stengel hochnehmen, dann kräftig zupacken und schnell aufbrechen.“ Ich sah ihr zu, wie sie mit geschickten Händen die sich wehrende Frucht überwältigte und in der Mitte mit einem lauten Schmatzen aufbrach.
„So und jetzt kannst du sie ganz bequem auslöffeln.“ Dulcia griff mit einer Hand nach einem Löffel und mit der anderen schlug sie in ihrem Lexikon nach. „Quitschen sind eine echte Notfallnahrung. Das gelbe Fruchtfleisch ist sehr sättigend, nahrhaft, vitamin- und eiweißreich. Die schwarzen Samen sind besonders wertvoll, sie enthalten ein hochwertiges Öl. Ein Magier kann sich bei Bedarf bis zu drei Monate ausschließlich von Quitschen ernähren, ohne nennenswerte Leistungseinbußen befürchten zu müssen. Der Baum wächst in tropischen Gefilden und kann ganzjährig Früchte tragen.“ Dulcia zitierte mit Begeisterung aus ihrem Lexikon, das sie vor sich aufgestellt hatte. Ich wagte einen weiteren Angriff auf das widerspenstige Obst und tatsächlich gelang es mir diesmal, meine Quitsche zu öffnen.
Nach der vierten honigsüßen Frucht lehnte ich mich mit einem angenehmen Völlegefühl zurück und beobachtete Professor Espendorm, die schweigend das Schauspiel der kichernden und ihren Quitschen hinter herjagenden Studenten betrachtete und sich innerlich Notizen zu machen schien. Schließlich klatschte sie erneut in die Hände und eine winzige, rundliche Dame trat zu ihr, deren glattes, schwarzes Haar in der Morgensonne rötlich schimmerte.
„Unsere Haushälterin Madame Villourie ist die gute Seele von Tennenbode und wird ihnen alle Räume zeigen und alle für sie wichtigen Dinge erläutern. Wir sehen uns um zwölf Uhr zum Mittagessen in der Südhalle wieder.“ Mit diesen Worten nahm Professor Espendorm wieder Platz und alle Blicke richteten sich auf die kleine Madame Villourie.
„Guten Morgen, willkommen auf Tennenbode. Bitte folgen sie mir!“, piepste sie und trippelte los. Während alle aufstanden und den Raum verließen, sah ich mich möglichst unauffällig nach Adam um. Er wollte sich dem Rundgang offenbar nicht anschließen, sondern war zu Professor Espendorm gegangen, die ihn lächelnd begrüßte. Ich warf ihm einen langen Blick zu, doch er sah nicht zu mir hinüber. Ein seltsames Gefühl von Zerrissenheit überkam mich. Ich wandte mich schnell ab, bevor meine Füße mich zu Adam trugen, obwohl sie es nicht durften.
Für ihre Größe war Madame Villourie erstaunlich schnell und wir hatten Mühe ihr zu folgen, als sie uns durch die wichtigsten Räume führte. Ich versuchte, mir so viel wie möglich von dem zu merken, was sie darüber erzählte, wo es Mittagessen, den Nachmittagstee und das Abendessen gab. Als Nächstes betraten wir einen Vorlesungsraum. Er wirkte leer und unbewohnt. Spinnweben hingen an den Fenstern wie graue Gardinen und eine Staubschicht lag auf den Lehnen der hölzernen Stühle.
„Die Vorlesungssäle werden schon seit langem nicht mehr genutzt. Sie sind für die Studenten in Tennenbode ein Ort der Erinnerung geworden.“ Eine kalte Stille senkte sich über unser Grüppchen. Betreten sah ich Liana und Lorenz an, die ebenso wie ich die Stühle musterten. „Jeder Stuhl wird für eines der Mädchen freigehalten, die entführt wurden. Auf jedem Stuhl steht ein Name, der uns an die erinnert, die heute nicht bei uns sein können.“ Madame Villourie schritt durch den Vorlesungsaal und wir folgten ihr schweigend. Unter dem dichten Staub konnte ich Namen erkennen. Jolanda Müller, Karina Loppen, Francis Henning, es ging endlos weiter. Ich konnte sie nicht mehr lesen. Tränen traten mir in die Augen, als ich begriff, welche Schicksale hinter jedem Namen steckten. „Wo einst Vorlesungen stattfanden, sind heute 1437 Stühle für Erinnerungen belegt. Das soll sie ermahnen, sich der Gefahr, in der wir leben, ständig bewusst zu sein. Ihr Name soll nicht auch noch hier stehen.“ Schweigend verließen wir den Vorlesungssaal und Madame Villourie führte uns in den nächsten, solange, bis wir alle leeren Plätze besichtigt hatten. Mein Herz war nur noch ein eisiger Klumpen und ich fühlte mich wie auf einem Friedhof. Endlich kamen wir wieder in der Eingangshalle an und ich atmete auf.
„Da die Vorlesungsräume nicht mehr genutzt werden, finden die Vorlesungen an anderer Stelle statt.“
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