Königskinder (German Edition)
Job in der Kombüse oder der Pantry ergattert zu haben, kann sich über eine Zusatzration freuen. Der Stacheldraht vor der Bordküche, wo die Treppe zum Deck hinaufführt, wird Klagemauer genannt, oft lungern dort Männer mit einem Napf herum in der Hoffnung auf eine milde Gabe von der anderen Seite. Je größer und kräftiger einer ist, desto mehr leidet er Hunger.
«Abgesehen vom Hass auf die Nazis haben wir nichts gemeinsam», stellt Erich belustigt fest. «Die Leute tun gerade so, als wären sie immer noch in Wien oder Berlin.»
«Ja, beeindruckend ist das», sagt Otto. «Wie geschickt manche dieser Geschäftsleute Handel treiben und die Leute übers Ohr hauen! Und der Industrielle vom Nebentisch ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Dabei würden uns Solidarität und Empathie unter den gegebenen Umständen viel weiter bringen, aber diese Worte haben die noch nie gehört.»
Erich lacht. «Einig sind sie sich nur darin, dass das Schiff untergehen wird, wenn die Linken sich durchsetzen.»
Als einer von denen ist Erich bemüht, sich als Sprecher so neutral und diplomatisch wie möglich zu verhalten und plötzlich auflodernde Streitigkeiten zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und Weltanschauung zu schlichten. Die unfassbare Ungerechtigkeit, der sie sich alle ausgesetzt fühlen, schafft bisweilen nicht Solidarität, sondern eine gereizte Stimmung. Die echten Kriegsgefangenen, manche von ihnen Nazis und Faschisten, genießen als Feinde Respekt bei den Engländern, während Erichs Gefährten für Leutnant Scott und seine Helfershelfer nichts anderes sind als Saujuden, Bolschewiken und Jerries, die keine bessere Behandlung verdienen. So hat man den Kriegsgefangenen über dem Achterdeck eine mit Stacheldraht gesicherte Einfriedung errichtet, in der sie sich den ganzen Tag an der frischen Luft aufhalten können. Das ist schwer auszuhalten.
«Von Scotts Warte aus kann man das sogar nachvollziehen», sagt Otto. «Er will seine Ruhe haben. Und Juden können unerträgliche Querulanten sein. Natürlich sind wir im Recht, aber was nützt uns das auf hoher See?»
«Wenn man ein Nazi ist oder auch nur ein ganz gewöhnlicher deutscher Matrose, weiß man, dass man als Kriegsgefangener nicht mit Samthandschuhen angefasst wird. Aber wir? Wir sind doch Verbündete!»
«Da wir uns andauernd beschweren, sind wir für Scott eben keine Verbündeten, sondern Feinde, die ihm schaden können. Und – mark my words – wenn wir dort lebend ankommen, werden wir ihm schaden, davon bin ich überzeugt. Es hat keinen Sinn, sich zu beschweren. Scott hat unmissverständlich klargestellt, dass er nicht mit Briefen belästigt werden will, in denen wir uns über gestohlenes Eigentum beklagen. ‹Ich gebe nicht den Amateurdetektiv›, hat er gesagt.»
Otto hat sich am Vormittag mit Simon unterhalten, einem der etwa zweihundert frommen Juden an Bord, die sich normalerweise von den Laizisten und Atheisten absondern, als hätten sie Angst vor einer Ansteckung.
«Stell dir vor: Die Frommen essen praktisch nur getrocknetes Gemüse, Zwiebeln und Obst – wovon es, wie wir wissen, kaum etwas gibt. Oberrabbiner Ehrentreu entscheidet, was koscher ist und gegessen werden darf. So wird das Brot hier in Dosen gebacken, die mit Schmalz ausgeschmiert sind, die Orthodoxen dürfen es nur essen, wenn sie die Kruste entfernen. Und die Schiffskekse sind nur Leuten erlaubt, die sehr krank sind. Die Rabbiner entscheiden, wer von den Kranken was essen darf, damit er am Leben bleibt. Und trotzdem studieren sie unermüdlich die Bibel und den Talmud, hauptsächlich aus dem Gedächtnis, ihre Bücher lesen ja jetzt nur noch die Fische. Das nenn ich Disziplin. Die wenigen Tefillin-Paare, die sie retten konnten, werden von einem zum anderen gereicht. Ihr Verhalten verdient Respekt, wie immer man zu ihnen stehen mag. Wir sollten von ihnen lernen. Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen.»
Die Gefahr besteht allerdings auch nicht. Wer nicht völlig abgestumpft ist, kann trotz aller Unannehmlichkeiten nicht umhin, sich vom quirligen Zusammenleben an Bord anstecken zu lassen. So gut wie jeder Beruf ist vertreten: Es gibt Friseure, Köche, Mathematiker, Rabbiner, Komponisten, Rechtsanwälte, Dichter, Ärzte, Banker, Lehrer, Metzger, Psychoanalytiker, Linguisten, Journalisten, Schneider, Schuster und natürlich jede Menge Kaufleute und Künstler. Schon allein aus Langeweile, wenn nicht aus sozialer Verantwortung, versuchen viele, ihre Kenntnisse und
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