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Königskinder (German Edition)

Königskinder (German Edition)

Titel: Königskinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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Sie fand es abwegig, dass diese sich ausgerechnet einen frommen Juden ausgesucht hat, aber ihr zuliebe ist sie hingegangen. Wie Erich lehnt Irka jede Religion ab, die ihrer Meinung nach nur dazu da ist, die Leute davon abzuhalten, sich für ein besseres Leben auf Erden einzusetzen. «Opium fürs Volk» eben. So denkt auch ihre Familie. Gesetzestreue Polen wollten sie sein, nicht Juden.
    Erich wurde die Rolle der Religion bewusst, als er fünfzehn war. Er begriff damals, wie tief die katholische Kirche in die intimsten Bereiche des Lebens der Menschen eingreift und wie sehr es ihr in erster Linie um Macht geht. Er trat aus der Kirche aus und schwor ihr ewige Feindschaft. Sein Vater, obwohl Sozialdemokrat und keineswegs gläubig, war entsetzt. Sein Vater, ja, auch seinetwegen schämt er sich vor diesem unglücklichen Mann. Sein Vater ist Antisemit. Kein rabiater, aber mit genügend Vorurteilen behaftet, um seinem Sohn eine brave Katholikin zur Ehefrau zu wünschen und keine ausländische Jüdin. Erich hat ihm nicht einmal Widerworte gegeben, als er versuchte, ihm Irka mit dem Hinweis auszureden, «in Deutschland draußen» sei die Mischehe verboten. «Bei uns gibt es glücklicherweise noch keine Nürnberger Gesetze», war alles, was Erich dazu einfiel. Er ist es nicht gewohnt, mit seinem Vater zu streiten. Erich und seine beiden Brüder sind zu Gehorsam erzogen worden. Spurten sie nicht, setzte es die berühmte «g’sunde Watschn».
    «Weißt du, was mein Vater gesagt hat, als ich aus dem Gefängnis kam und mit ihm einen Spaziergang auf den Kahlenberg gemacht habe?», fragt Erich unvermittelt Otto, der mit angewinkelten Beinen auf dem Boden sitzt und den Kopf zwischen den Knien hängen lässt. Otto hebt den Blick. «Wir sind immer spazieren gegangen, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab, und mein Vater wollte wissen, was ich nun vorhabe. Also habe ich ihm gesagt, dass ich nach Warschau fahren werde, um Irka zu heiraten. ‹Um Gottes willen! Die Juden haben schon einmal Unglück über unsere Familie gebracht›, hat er gesagt.»
    Ottos graublaue Augen sind traurig. Er schweigt.
    «Ich schäme mich für meinen Vater. Ich weiß auch nicht, was er damit gemeint hat. Wir hatten keinen Kontakt zu Juden.»
    «Du bist doch ein Verehrer von George Bernard Shaw», sagt Otto. «Ich habe ein Zitat von ihm für dich: ‹Je mehr ein Mensch sich schämt, desto anständiger ist er.› Es ist keine Schande, sich zu schämen. Im Gegenteil.»
    «Denkst du manchmal an Else?», fragt Erich. «Sie ist jetzt mitten unter ihnen.»
    «Ja, schon», antwortet Otto. «Es ist nicht leicht, so ganz ohne Nachricht von ihr zu sein, aber sie wird schon zurechtkommen, ich kenne sie.»

[zur Inhaltsübersicht]
    11
    Nach einer Woche ist immer noch kein Land in Sicht. Dafür wird es von Tag zu Tag wärmer. Die Männer scharen sich um Uwe, den Mathematiker mit Navigationserfahrung. «Wann kommen wir endlich an?»
    «Jetzt drehen wir südwärts», verkündet er. «Wenn es Kanada sein soll, sollten wir übermorgen Land sehen.» Noch weniger überzeugend klingt er zwei Tage später: «Jetzt müssten wir schleunigst nach Westen drehen, wenn es immer noch Kanada sein soll.»
    Die Männer haben sich an die gleichmäßige Bewegung des Meeres gewöhnt. Im ewigen Dämmerlicht, das im Bauch des Schiffes herrscht, geht ein Tag ereignislos in den anderen über, und inmitten des Chaos stellt sich eine gewisse Routine ein. Zu den Essenszeiten muss man sich abwechseln, denn es gibt zu wenig Tische für alle. Jeweils fünfzehn bis zwanzig Mann finden sich zum Essen an einem Tisch zu einer «Familie» zusammen. Die Tische tragen Nummern, die von den Essenholern an der Kombüse genannt werden müssen. Ohne Nummer gibt es nichts zu essen. Meistens bekommen sie geräucherten Fisch, Wurst, Kartoffeln und einen Löffel Melonen- oder Zitronenmarmelade. Nicht selten müssen aus der Suppe weiße Maden gefischt werden. Auch das Brot ist häufig madig, die Butter ranzig.
    Die Familie, mit der Erich speist, ist gemischt: ein Sprössling der altösterreichischen Hocharistokratie aus Prag, ein Kommunist aus Dresden, ein Baron aus Salzburg, ein Matrose der holländischen Handelsmarine aus Ottakring, ein Selchermeister aus dem 1. Wiener Gemeindebezirk und ein belgischer Handlungsreisender gehören zu den Prominenteren, die das Spiel des Zufalls zusammengewürfelt hat. Und Otto.
    Bei der Verteilung der Rationen wird viel gezankt, denn das Essen reicht nie. Wer das Glück hat, einen

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