Königskinder (German Edition)
und ein paar Sekunden die Sonne genießen können. Krank zu sein ist ein Privileg, und so mancher meldet sich krank, obwohl er kerngesund ist, nur um hinter einem Korporal hertrottend das Unterdeck verlassen zu können und im Krankenrevier den Luxus eines von einem halbhohen Gitter geschützten Betts und sauberer Laken zu genießen.
In der Küche, in den Waschräumen und in den Latrinen sind die Luken tagsüber geöffnet und stets von einer dichten Menschentraube umlagert, die danach lechzt, frische Luft in die Lungen zu pumpen. So entwickeln sich die Toiletten zu einem Treffpunkt, um eine zu rauchen, das begehrte Toilettenpapier zu stibitzen und eines der neuesten Latrinengerüchte aufzuschnappen. Und das, obwohl viele an Durchfall und Seekrankheit leiden und der Fußboden bei starkem Wellengang eine einzige Kloake ist. Um vier Uhr nachmittags werden allerdings auch in den Nasszellen die Luken geschlossen. Besonders schlecht ist danach die Luft in den Waschräumen, wo sich der Wasserdampf mit dem Schweiß der zusammengepferchten Männer mischt.
Eigentlich sind weder Zigaretten noch Streichhölzer erlaubt, und werden sie bei einem Internierten entdeckt, wird er für vierundzwanzig Stunden im Schiffsbunker auf eine Diät von Wasser und Brot gesetzt. Die Internierten, die schließlich gefährliche Spione sind, könnten das Schiff in Brand setzen, so die Befürchtung. Doch das Verbot ist schwer durchzusetzen. Zwischen Matrosen und Internierten entwickelt sich bald ein reger Handel mit Virginia-Zigaretten der Marke Waverley in schön bemalten Blechbüchsen, die in einem ausgeklügelten System von Großhändlern, Mittelsmännern und Kleinverkäufern unter die Leute gebracht werden. Selbstredend ist «Fraternisierung» mit den Internierten streng verboten. Auch Geld, das den britischen Soldaten trotz wiederholter Suche durch die Lappen ging, ist im Umlauf. Jeder hat sein eigenes geheimes Versteck. Beim Rauchen halten zwei Gefangene abwechselnd Wache. Erschallt der vereinbarte Warnruf «Achtzehn!», werden die Zigaretten eilig ausgedrückt.
«Hast du früher auch heimlich in der Schultoilette geraucht?», fragt Erich Otto.
«Ich war zu feig dazu.»
Ein Glücksfall ist Hein Heckroth, ein Maler und Bühnenbildner, der vor 1933 an der Folkwangschule in Essen unterrichtete. Als die Offiziere spitzbekommen, dass er ein hervorragender Maler ist, lassen sie sich von ihm porträtieren und bezahlen mit Zigaretten, die Heckroth umgehend an seine Tischgenossen verteilt. Nicht jeder ist so großzügig wie er. Unter den verschärften Bedingungen an Bord zeigen sich die verschiedenen Charaktereigenschaften der Menschen in zugespitzter Form – im Guten wie im Schlechten.
Süßwasser zum Waschen gibt es nur zwei- bis dreimal wöchentlich. Da den Männern die Rasierutensilien weggenommen wurden, leiden viele an juckenden Ekzemen. Wer glatt rasiert ist, weil es ihm irgendwie gelungen ist, seine Klingen zu retten, dem wird mit Bunker gedroht. Da die meisten nur das besitzen, was sie am Leib tragen, haben sie nichts anzuziehen, wenn sie ihre Wäsche mit Salzwasser waschen. Schon bald ist die Kleidung zerschlissen. Mit dem einzigen Paar Schuhe, das die Männer an den Füßen tragen, müssen sie durch Fäkalien und Urin waten.
Doch auch verdreckt und zerlumpt gelingt es den Internierten, eine innere Organisation aufzubauen. Das Meer hat sich beruhigt, die Mägen gewöhnen sich an den regelmäßigen Wellenschlag des Atlantiks, und die Energie kehrt in die Körper zurück. Drei Männer, von denen einer unverkennbar ein Anwalt ist, entwerfen eine Verfassung, die eine Selbstverwaltung der Internierten vorsieht. Da zum Schreiben nur Toilettenpapier zur Verfügung steht, geht sie als Toilet Paper Constitution in die Geschichte ein.
An Bord gibt es viele Ärzte und Psychiater. Sie haben zwar weder Medikamente noch Verbandszeug, um ihre Kameraden zu versorgen, doch sie greifen ein, mäßigend oder aufrüttelnd, je nachdem, wenn Apathie und Verzweiflung sich breitzumachen drohen. Zunächst versuchen sie, mit vernünftigen Appellen zu überzeugen: «Sei kein Narr. Solang der Mensch lebt, darf er die Hoffnung nicht aufgeben.» Hilft diese sanfte Methode nicht, versuchen sie es mit Härte: «Glaubst du, du bist der Einzige, der hier leidet, der Einzige, der sich Sorgen um seine Familie macht?» Wenn auch das nichts hilft, legen sie ihre Hand begütigend auf den Arm des Betroffenen, setzen ein mildes Lächeln auf und erzählen eine Anekdote, um dem
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