Königskinder (German Edition)
Traurigen ein Lächeln zu entlocken. Die meisten Ärzte sind Juden, es sind jüdische Geschichten, die sie erzählen. Ihnen geht es darum, auf keinen Fall eine Massenpsychose aufkommen zu lassen.
Eines Tages ereignet sich eine erschütternde Szene. Ein Jude mittleren Alters kauert auf seinem zu einem Bündel zusammengerollten Mantel unter der Treppe und bewegt sich vor und zurück wie im Gebet. Dazwischen hält er inne, drückt seine Hand ans Herz und lacht wie ein Meschuggener.
«Tut dir das Herz weh?», fragt ein Arzt den Mann, der ihn ansieht, als habe er die Frage nicht verstanden. Das Gesicht in den Händen vergraben, beginnt er bitterlich zu weinen.
«Lass ihn eine Weile weinen, vielleicht tut es ihm gut», rät ein grauhaariger Psychiater.
Die Stimmung ist bedrückt. Während der Jude weint, wagt keiner der Männer, einen Ton von sich zu geben. Manche haben feuchte Augen. Erich schämt sich und weiß nicht, wofür. Vielleicht, weil er zu wenig gelitten hat in seinem Leben oder weil er eine liebende Frau hat, die ihm bald nachfolgen wird. Weil der Großteil seines Lebens noch vor ihm liegt. Dieser Mann, das sieht man gleich, hat nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Erich würde ihm gern ein Glas Wasser reichen, aber woher nehmen? Bis auf die paar Schluck, die man ihnen zu den Mahlzeiten gönnt, ist kein Trinkwasser verfügbar.
Plötzlich hört der Mann zu weinen auf, nimmt die Hände vom Gesicht und murmelt ein paar Worte.
«Was hast du gesagt?», fragt der Psychiater, als der Mann nicht antwortet, und dann noch einmal: «Was hast du gesagt? Sprich mit mir, ich will dir helfen. Wir alle wollen dir helfen.»
Der Mann schnürt seinen rechten Schuh auf und zieht den Strumpf aus. Gebannt sehen die Männer zu, während der Psychiater ihn streichelt und immer wieder fragt, was los sei. Da steht der Jude auf und schwingt das rechte Bein, bis ein kleines Päckchen aus dem Hosenbein fällt. «Da, da», ruft er.
Der Psychiater hebt das Päckchen auf, löst die Schnur und entfaltet das Zeitungspapier, in das der Gegenstand gewickelt ist. Zum Vorschein kommt ein zerbrochener Ziegelstein. «Was ist das?»
Lange Zeit schweigt der Mann und blickt in die Ferne, wie um sich an ein Ereignis zu erinnern, das lange Zeit zurückliegt. Dann plötzlich fängt er an zu sprechen, wenn auch nur in Wortfetzen. «Lauterbach … Synagoge.»
«Ja, Lauterbach», sagt einer in die Stille hinein, «das ist in Hessen.»
«Großvater … Torarolle.»
«Dein Großvater hat der Synagoge eine Torarolle gespendet», hilft ihm der Psychiater.
«Dann …»
«Dann haben die Nazis sie angezündet. Und die Torarolle ist verbrannt. War es so?»
«Unsere Synagoge, schön und groß … mit Dynamit gesprengt … Vater, Großvater, Urgroßvater, alle waren dort Beter … zerstört.»
«Beruhige dich», besänftigt ihn der Psychiater. «Keinem von uns geht es gut. Auch in Aurich, wo ich herkomme, haben sie uns die Synagoge angezündet.»
«Alles kaputt … verloren … Frau, Kind, Haus … KZ … tot … Herzversagen.» Das Gesicht des Juden ist tränenüberströmt. «Und hier, auf diesem Schiff, Räuber, Diebe … alles gestohlen, den Ehering, die goldene Kette meiner Frau, die Kette meiner Tochter … beide tot.»
«Wir werden uns drum kümmern, dass du sie wiederbekommst. Erich wird das übernehmen, nicht wahr?»
Erich kann nur stumm nicken.
«Und der Ziegelstein?», lässt der Psychiater nicht locker. «Was ist mit dem?»
«Von der Synagoge … das Einzige.»
Der Mann nimmt den Stein, betrachtet ihn lange und steckt ihn in die Jackentasche. Dann sagt er seinen ersten zusammenhängenden Satz: «Ich nehme ihn mit in mein Grab.»
In der Totenstille hören sich die Schiffsmotoren plötzlich überlaut an. Die Männer haben die Köpfe gesenkt. Viele weinen.
Erich weiß nun, warum er sich schämt. Er ist kein Jude. Er hat eine jüdische Frau und fühlt sich den Juden verbunden, er mag den Humor und den Zynismus seiner jüdischen Freunde. So, wie die Dinge stehen, ist Zynismus eine gesunde Lebenseinstellung. Wahljude sei er, hat Erich früher gern gesagt. Seit den Nazis ist ein solches Wort frivol. Wie viele Juden wären jetzt froh, keine sein zu müssen. Irkas Familie. Die Familie des verzweifelten Mannes ist seit Generationen in der Synagogengemeinde seiner Stadt, sie wissen wenigstens, warum sie verfolgt werden. Irka ist ein einziges Mal in ihrem Leben in einer Synagoge gewesen – als ihre Freundin geheiratet hat.
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