Königskinder (German Edition)
Fähigkeiten einzubringen. Inmitten der vielen Intellektuellen werden aber Friseure, Schuster und Schneider am meisten gebraucht.
«Ich bin jetzt Mitglied in einem Schachclub!», verkündet Erich mit blitzenden Augen. Seit früher Jugend ist er ein leidenschaftlicher Schachspieler. «Einer hat aus altem Brot ein Schachspiel gebastelt.»
Ein anderer baut aus Obstkisten aus der Pantry ein Armaturenbrett und eröffnet eine Fahrschule. Jene, die ihre Spielkarten retten konnten, spielen Bridge, Rommé und Tarock, den ganzen Tag lang. Ein Junge, der Siegfried heißt, beginnt auf Postkarten, die ihm irgendjemand geschenkt hat, Szenen und Karikaturen vom Leben auf See zu zeichnen, über die sich die Internierten köstlich amüsieren. Immer mehr Leute wollen sich von Siegi porträtieren lassen. «Wenn du mir Papier organisierst, gern», sagt der. Und wie durch ein Wunder gelingt das. Natürlich zeichnet auch Otto, manchmal sitzen sie nebeneinander und zeichnen um die Wette. Wenn Otto nicht gerade den Debattierclub aufsucht, in dem die Weltlage ebenso wie die Situation an Bord erörtert wird.
Erich ist in seinem Element und sucht das Gespräch, wo er nur kann. Er ergreift die Chance, nachzuholen, was er in Wien versäumt hat, weil sein Vater ihn nicht aufs Gymnasium schicken wollte, wo er nach Meinung seiner Lehrer eigentlich hingehört hätte. Ein Arbeiterkind brauche kein Gymnasium, hatte der Vater entschieden, er selbst habe auch keins besucht und es dennoch zum Feuerwehrhauptmann gebracht. Immerhin durfte sein Sohn eine Handelsschule besuchen, wo er den soliden Beruf eines Buchhalters erlernte.
An Bord der Dunera lässt Erich keine Gelegenheit aus, etwas Neues zu lernen, besucht einen Vortrag über Astrophysik oder die Kunst der Renaissance, eine Darbietung von Schubert-Liedern durch einen Opernsänger oder eine Unterrichtsstunde in Französisch. Er geht zu den Philosophievorlesungen von Gerd Buchdahl, dem es gelungen ist, ein Exemplar des Standardwerks von C. E. M. Joad «Guide to Philosophy» auf das Schiff zu schmuggeln und der einem begeisterten Publikum Ausschnitte aus Plato und Aristoteles vorträgt. Buchdahl gibt auch Englischunterricht und ist einer der Autoren der Dunera -Verfassung.
Die Fülle geballten Wissens ist unerschöpflich. Walter Heine spricht über den modernen Schiffsbau. Walter König, ein katholischer Priester, über Goethes Faust. Dr. Richard Ullmann über Oswald Spenglers «Der Untergang des Abendlands». Wenn Kurt Cohn aus Wien, der in England unter dem Namen Ray Martin auftrat und es auf rätselhafte Weise geschafft hat, seine Gitarre zu behalten, mit seiner klaren, hellen Stimme «South of the border, down Mexico way» singt, lauschen die Männer erst andachtsvoll, bald aber stimmen viele ein. Erich hört nur zu, er hätte gern mitgesungen, aber er traut sich nicht. Bei ihm zu Hause wurde nie gesungen, und leider ist auch Irka diesbezüglich nicht zu gebrauchen. Aus ihrer Kehle würde nur ein Krächzen dringen, sagt sie und hält den Mund fest verschlossen, wenn Freunde ein Lied anstimmen, nicht einmal die «Internationale» will sie mitsingen. Erich beneidet die Leute, die sich an Bord zu Chören zusammengefunden haben. Wenn sie singen, scheinen sie alle Widrigkeiten zu vergessen und strahlen vor Begeisterung.
Gustav Heinrich Clusmann, ein schöner Mann in Erichs Alter, singt unbegleitet Negrospirituals. Peter Meyer komponiert eine « Dunera -Messe», und Boas Bischofswerder, ein von den Misshandlungen an Bord zutiefst schockierter Oberkantor aus Berlin, komponiert eine Phantasia Judaica für vier Tenorstimmen. Die Partitur fertigt sein Sohn Felix auf Toilettenpapier an. Es ist das erste Mal, dass Erich jüdische Gebetsmusik hört.
«Darf ich das als Agnostiker schön finden?», fragt er seinen Vertrauten Otto.
Otto zuckt mit den Achseln. «Es ist Kunst. Die darfst du immer schön finden. Ist es nicht großartig, wie wenig es anrichtet, solchen Menschen materielle Dinge wegzunehmen? Ihre Kultur, ihre Bildung, ihre Kunst kann ihnen niemand rauben. Damit werden sie überall auf der Welt durchkommen.»
Am neunten Tag der Reise sammelt sich in einer Ecke des überfüllten Raums, in dem an Leinen hängende und um Balken drapierte Wäschestücke jeglicher Form und Farbe die Sicht verstellen, eine Traube junger Leute um einen zierlichen Mann mit starken Brillengläsern. Erich und Otto pirschen sich heran. Der Mann erzählt von einem Vulkanausbruch auf der Insel Stromboli.
«Am Morgen
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